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Sage: Kritische Betrachtungen Uber die „8ohlaftänzerin". 437
Im Ganzen ist diese Erscheinung eine ganz gewöhnliche
, der man häufig — wenigstens im embryonären Stadium
— auch sonst begegnet. Sie beweist die Plastizität
(die Bildsamkeit und leichte Beweglichkeit) des
menschlichen Körpers gegenüber den Einflüssen des
Gedankens. Man findet sie sogar im Wachzustand:
es giebt Leute, die das Bedürfniss fühlen, auf sich selbst
gewaltsam einzuwirken, um nicht ins Gestikuliren
zu gerathen, sobald sie Musik hören. Deshalb ist man
ganz erstaunt, wenn man die ultra-lyrischen Ergüsse liest,
die viele Zeitungen der Frau Mag Meine G. gewidmet
haben.
Wie gross ist doch die Macht der Keklame! Hätten
die meisten dieser Berichterstatter die gleiche Person zufällig
gesehen und bei ihren Gesten beobachtet, so
hätten sie wohl kaum darauf geachtet. (? — Red.)*)
Als de Rockau voriges Jahr in Italien war, lernte er
eine junge Dame kennen, die sich zur Bühne vorbereitete;
sie hat eine wunderbar schöne Stimme, aber sie ist
schüchtern und diese Schüchternheit lähmte sie beim Auftreten
dergestalt, dass sie nicht die geringste Geste
machen konnte und daher beim Singen wie eine Statue
unbeweglich dastand, de Rochas schläferte sie ein und im
Schlaf fand sie die Fähigkeit wieder, die wir alle mehr
oder weniger besitzen, den Gedanken nicht bloss durch die
Stimme, sondern auch noch durch einen besonderen Erregungszustand
aller Muskeln unseres Körpers, kurz durch
die Geberde („le gestea) auszudrücken. Er gab ihr die
posthypnotische Suggestion ein, diese Fähigkeit im Wachzustand
zu behalten und so konnte er der sehr interessanten
jungen Dame einen wirklichen Dienst erweisen. —
Ich bin überzeugt, dass die meisten aus Anlass dieser
Streitfrage vorgebrachten Albernheiten von dem Fundamentalirrthum
der modernen Wissenschaft hinsichtlich des
Schlafes herkommen. Die alten Schüler und die Leser
der hinterlassenen Werke eines so tiefen Denkers, wie es
Dr. Carl du Prel war, sollten aber an diesem Irrthum nicht
theilnehmen. Der Schlaf ist nicht die Erlahmung oder
Stockung der Verrichtungen unserer Maschine: er ist im
Gegentheil der Beginn des Erwachens eines
transszendentalen Zustandes, der in jedem
*) Ueber die künstlerisch ganz einzigartigen, im Wachzustand
kaum nachzuahmenden Leistungen der Dame sind die
kompetentesten Beurtheiler in Deutschland geradezu entzückt.
— Red.
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