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Lombroso: Migone'ismus.
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Den Ursprung dieser Tendenz konnte ich zum ersten
Mal bei einer Irrsinnigen wahrnehmen, die ehedem
intelligent und sehr gebildet gewesen war* Sie litt an
merkwürdigen Wahnvorstellungen. Wenn sie das Haus ver«
liess und durch den ersten Gegenstand oder die erste
Person frappirt wurde, die vor ihr auftauchten, dann
nahm dieser Gegenstand oder diese Person den ganzen Tag
über die Stelle alles Anderen ein. Sah sie beispielsweise
des Morgens beim Verlassen des Hauses ein Pferd, so sah
sie mich und alle anderen Personen als Pferd. „Ich
weiss wohl,a sagte sie mir selbst, „dass Sie nicht so ausseben
, aber ich kann den früheren Eindruck nicht aus
meinem Gedächtniss auslöschen." Die Verwirrung wurde
aber noch grösser, wenn die zweite Person, der sie begegnete
, ihr unbekannt war. Dann konnte sie sich absolut
nicht mehr zurechtfinden. Ganz besonders irritirte sie
diese Verwirrung, wenn die zweite Person, die sie sah, ihre
Tochter war, an der sie mit grosser Liebe hing. Sie erkannte
sie, wusste, dass es ihre Tochter war, und sah sie
doch in der Gestalt der ersten Person, die sie des Morgens
erblickt hatte; und sie konnte darüber derart in Wuth ge-
rathen, dass sie oft die Absicht hatte, die betreffende
Person zu tödten oder sich selbst das Leben
zunehmen. Sie war auch nicht im Stande, an einen
neuen Ort zu gehen, das heisst an einen solchen, an dem
sie nicht schon vorher gewesen war; denn die neuen Eindrücke
machten sie derart verwirrt und flössten ihr so viel
Schrecken ein, dass sie Selbstmord verüben wollte.
Dieses Phänomen lässt sich nun nicht anders erklären,
als dass sich in den schwachen oder geschwächten oder unvollkommenen
Gehirnen die Assimilation oder auch
nur die geistige Wahrnehmung sehr schwierig gestaltet
oder überhaupt unmöglich ist, wenn schon Sinneseindrticke
vorhanden sind und aufgenommen wurden, besonders wenn
der Unterschied ein grosser ist oder wenn nicht irgend ein
Anknüpfungspunkt oder ein Uebergang vorhanden ist So
nennen gewisse wilde Völker in ihrer primitiven Sprache den
Elefanten „Ochse mit Zähnen", das Pferd „grossen Hund*.
Verursacht aber die Vorstellung eine Anstrengung, einen
Schmerz, dann entsteht das furchtbare Angstgefühl.
Diese Thatsachen lassen sich nicht nur bei Thiereu
und bei Irrsinnigen beobachten, sondern auch bei
Kindern und bei Wilden. Ich wurde oft von
JFainilien zu Rathe gezogen, die die Furcht ihrer Kinder
für krankhaft hielten, am häufigsten im Alter von sieben
Monaten bis zu einem Jahre. Eine Kiste, eine Eigur, ein
Psychische Studien. Jnli 1904. 29
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