http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0451
442 Psychische Studien* XXXI. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1904.)
Mann mit Bart, den sie zum ersten Male erblickten, brachte
sie in Entsetzen. Ebenso habe ich oft beobachtet, dass
Kinder, denen man einmal ein Märchen erzählt hat, verlangen
, dass man ihnen dieses Märchen stets mit genau
denselben Worten wiederhole, und sie gerathen in Wuth,
wenn man irgend ein Wort oder eine
Wendung ändert. Auch haben Kinder oftmals Vorliebe
für ein bestimmtes Spielzeug und ärgern sich, wenn
man ihnen für dieses einen Ersatz zu bieten versucht.
Obgleich Varigny meinen „Misoneismus" zu bekämpfen
versuchte, um Hörnernes vertheidigen zu können, gesteht er
zu, dass er einen eklatanten Fall bei einem Kind von zwei
Jahren beobachtet hat, das sich, trotzdem es ihn sehr
lieb hatte, mit Entsetzen von ihm entfernte, als er gezwungen
war, sich in Folge eines Rheumas ein Bein in
Watte einwickeln zu müssen, wodurch dieses dreimal so dick
aussah als gewöhnlich. Das Kind sah ihn an, dann stiess
es ein furchtbares Geheul aus und lief davon.
Auch noch nachdem er geheilt war, ging ihm das Kind
scheu aus dem Wege und begann zu schreien, wenn er sich
ihm etwas mehr nähern wollte; erst nach mehreren Monaten
und in Gegenwart einer dritten Person Hess es sich bewegen
, sich ihm zu nähern und ihm die Hand zu geben,
wobei es aber immer mit einer gewissen argwöhnischen
Miene auf den einen Fuss sah und zu der Mutter stammelte:
„schwarze Schuhe1*, um damit zu bestätigen, dass die Dinge
wieder normal geworden waren.
Der Eindruck des Hasses oder der Lächerlichkeit, den
ein neues Kleid oder eine neue Barttracht einem Bauern
oder einem Gassenjungen macht, hat zweifellos dazu beigetragen
, dass sich in gewissen Gegenden auf dem Lande
bis zum heutigen Tage der Gebrauch erhalten hat, ein
oder mehrere Exemplare eine3 jeden neuen Gewandes aufzubewahren
, so dass man in der Lage ist, historisch genaue
Aufzeichnungen über die Trachten und Kostüme bis ins
Mittelalter und oftmals noch weiter zurück zu machen.
Die Aversion gegen alles Neue ist es auch, die Schuld
daran trägt, dass gewisse Völker hartnäckig an ihren
Trachten und ihren Gebräuchen festhalten, und zwar Jahrhunderte
, ja Jahrtausende hindurch. Aber nicht nur bei
einfachen Landbewohnern ist dies der Fall, sondern auch
bei sehr aufgeweckten und gebildeten Völkern. Man denke
nur an jenen geradezu kannibalischen Gebrauch der Circum-
oision, die sich bei den Juden bis auf den heutigen Tag
•erhalten hat und nicht auszurotten ist. —
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0451