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488 Psychische Studien. XXXI. Jabrg* 8. Heft. (August 1904.)
armen Krüppels dagegen waren von so kindlicher und wahrhaftiger
Färbung und trugen in so hohem Maasse den
Stempel der Vergeistigung an sich, dass sie Jeden, der
überhaupt religiöser Empfindung fähig und nicht von Stein
ist, tief beeindrucken mussten. Vielleicht war das
Schauspielkunst, ich kann es aber nach der erzielten
Wirkung nicht annehmen. —
Als Frau Rothe das erste Mal in Trance gerieth, nahm
sie meine Hand und blickte hinein. Dann sagte sie mir
Mal auf Mal so spezielle Dinge aus meinem Leben und das
in so edler Sprache, dass es mir die Thränen in die Augen
trieb. Später kam dann auch noch der bekannte Gesangbuchdichter
mit dem schön deklamirten Liede, - das mich
trotzdem nicht ergriff. Plötzlich aber sprach Frau Rothe:
„Dein Bruder steht hinter Dir!* Sie beschrieb dann meinen
verstorbenen Bruder allerdings ähnlich, indessen eine sehr
grosse Gestalt und schöne Augen haben ja viele Leute.
Dann sagte sie mir, welche Worte sie aus meines Bruders
Munde zu vernehmen meinte, — und das waren recht
originelle Worte, die allerdings gut zu meines Bruders
Denkweise passten; aber das konnten doch auch noch andere
Leute ebenso sagen.
Jetzt aber griff sie nach meiner Schulter: ich sah ihre
Hand ganz deutlich und sah, dass nichts darin war; da
ri8s sie mit einem hörbaren und fühlbaren Krach etwas von
meiner Schulter und reichte mir eine frische rothe Nelke
mit den Worten: „das hat Dein Bruder Dir angesteckt."
Ich blickte auf meine linke Schulter, denn ich war der
Ueberzeugung, der Aermel müsse aus der Nath geHssen
sein, aber alles war in Ordnung. Ich sah die ganze Zeit
über auf Frau Rothe's im Schooss liegende Hände. Da
wandte sich diese rasch etwas zur Seite, wo Frl. G. sass
und griff zwischen sich und Frl. G. ins Sopha hinein. Es
gab einen Krach, als ob der Plüschbezug und die Füllung
des Sitzes mit einer eisernen Kralle gewaltsam herausgerissen
würde; man hörte die Besonanz im Sitz des Sophas
und Frau Rothe hielt einen Strauss aus verschiedenen
Blumen in der Hand und schüttete die Blumen auf den
Tisch, wobei der Haufen ganz merkwürdig an ümfang
zunahm, während der Strauss doch mit einer Hand zu umspannen
gewesen war. Alle Blumen: Rosen, Kornblumen,
Nelken, Jasmin und diverse Kräuter waren frisch und bethaut
und keine einzige Blüthe geknickt oder abgestreift,
wie das bei dem Krach zu erwarten gewesen war. Jetzt
erwachte Frau Rothe und bekam ihren normalen, schüchternen
Gesichtsausdruck wieder, — und wir mussten der Wider-
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