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494 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 8. Heft. (August 1904)
doktrinen Angesteckten ein stärkeres Bedürfniss nach persönlicher
Liebe und Freundschaft, nebst einem heissen,
durch keinerlei Surrogate zu beschwichtigenden Mitleidsund
Gerechtigkeitsdrang, und fehlt ihm zugleich die intellektuelle
Kraft, die Schwäche jener Lehren zu durchschauen
—, dann kann er, selbst bei kräftigem Temperamente
, nicht umhin, die Welt in pessimistischem Lichte
zu betrachten. Kombinirt sich vollends eine derartige
Geistesbeschaifenheit mit einer düsteren organisch - temperamentalen
Gemüthsstimmung und sonstigen ungünstigen
Bedingungen, dann haben wir die Gestalt des Verzweiflungspessimisten
k la Leopardl Stehen aber einem
von Natur pessimistisch veranlagten Menschen grössere
philosophische Fähigkeiten zu Gebote, die jedoch, wie sein
Temperament selbst, krankhafte Strömungen in sich
bergen, dann entstehen ganze pessimistische Systeme, gegen
die selbst das, was ein folgerichtiges logisches Schliessen
den materialistischen Prämissen entnehmen muss, als ein
Kleines erscheint.*)
XII.
Kehren wir jetzt zu der oben aufgeworfenen Hauptfrage
zurück, nämlich, worauf die nicht wegzuleugnende That-
sache beruht, dass die erdrückende Mehrzahl der grossen
Männer, die grossen Künstler eingeschlossen, antimaterialistischen
Anschauungen huldigten und noch immer huldigen»
Die grosse Mehrzahl der Durchschnittsmenschen neigt zwar
von Natur in Gefühlen und Urtheilen gleichfalls und
meist mit grosser Entschiedenheit nach dieser Seite hin;
Sichversenken in eine angebliche „einheitliche Weltanschauung",
zu der hauptsächlich der — wie wir bald sehen werden — falsche
Substanz - Begriff gehört —, liefert ihm einen „Ersatz", d. h. kann
ihn verhältnissmässig blind und taub machen gegen das Uebel,
welches nun einmal bei materialistischen Prämissen nicht zu bewältigen
ist. Dass Büchner zeitweise von pessimistischen Bedenken
bedrängt wurde und dass Dühring bei der Kalten Verneinung seines
„Werth des Lebens" nicht stehen zu bleiben vermochte und sich
wenigstens ein Beligionssurrogat ersann, haben wir schon oben
gesehen.
*) Man hat im Allgemeinen die intellektuellen Schwächen
eines Schopenhauer oder Ed. v. Hartmann zu wenig auf ihre krankhafte
Seelennatur zurückgeführt. Auch eine grosse körperliche
oder geistige Kraft, die jedoch pathologisch unterminirt ist,
kann stellenweise in Schwäche und Verkehrtheit umschlagen.
So vermag z. B. ein muskelstarker, aber an Muskel - Bheumatismus
des einen Armes leidender Mensch mit dem gesunden Arme grosse
Gewichte zu heben, indes sich der kranke Arm schwächer als der
gesunde eines von Natur schwächlichen Menschen erweist. Und so«
steht es auch mit den psychischen Funktionen. Dass Schopenhauer
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