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496 Psychische Stadien. XXXI. Jahrg. 8. Heft. (Augast 1904.)
scheinbare Widersprüche aus dem Sattel zu hebende Logik
ihm fortwährend zuflüstert, es sei widersinnig, anzunehmen,
dass jene unverkennbare und alles Einzelne in sich begreifende
Urkraft, die dem Weltprozess zu Grunde liegt
und so unendlich viel Zweckmässiges und Schönes hervorbrachte
, nicht darauf angelegt sei, schliesslich auch
jegliches Uebel in Gutes umzuwandeln, zumal wir bald
hier, bald da auch jetzt schon eine solche Umwandlung
fast auf Schritt und Tritt beobachten können; kurz dass
es nicht eine der physischen korrelate moralische
Weltordnung gebe, in welcher ein alle Gegensätze
und scheinbaren Widersprüche schliesslich ausgleichendes
strenges Kausalitätsgesetz herrsche, wornach
ja das zum Selbstbewusstsein erwachte Individuum die unausbleiblichen
und gerechten Folgen der von ihm gewollten
bezw. vollbrachten Thaten früher oder später — sei es auch
erst in einem jenseitigen Leben — ernten muss.
Was den eher zu Denkern Angelegten die Kraft ihrer
Logik leistet, das leistet dem geborenen Künstler zumeist
sein aussergewöhnlich feines Schönheitsgefühl, ohne
welches er nie die Stufen der Entzückung und Begeisterung
ersteigen könnte. Dass aber diese Fähigkeit, die in den
Stunden der idealen Erhebung sich in einen Zustand von
besonderer Konzentration verdichtet und eben dadurch zur
Begeisterung wird, nicht etwa blos auf einer subjektiven
Eigenheit, sondern zugleich auch auf objektiven Wirklichkeiten
beruht, enthüllt sich uns klar, sobald wir die bei
gewöhnlichen Sterblichen vorkommenden Uebergangsstadien
derselben beobachten.
Zunächst bedenke man (worauf ich schon a. a. O. hingewiesen
habe), dass z. B. eine Landschaft, deren einzelne
Komponenten das Gefühl eines Durchschnittsmenschen
ziemlich kalt lassen, selbst für diesen in so etwas wie
einem poetischen Hauch erscheinen, sobald er sie von einem
höher gelegenen Ort, etwa von einem Aussichtsthurm, aus
betrachtet, von wo die kleinen Unebenheiten verschwinden,
so dass das Ganze den Eindruck ruhiger Harmonie macht.
Das heisst aber so viel als: die einzelnen Bilder der zu
jener Landschaft gehörenden Anhöhen, Bäume, Wege,
Häuser, Thiere, Menschen u. s. w. wirken auf seine Psyche
theils wegen ihres gewohnten Anblicks, theils wogen ihrer
Unvollkommenheiten so mittelmässig, dass sie von ihr eben
nur als bekannte Gegenstände konstatürt werden; nun
stellen sie sich aber einmal alle zugleich im Bewusst-
sein auf, jedes verstärke die Wirkung des anderen, und das
Gesammtresultat ist eine ungewöhnliche Auffrischnung oder
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