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498 Psychische Stadien. XXXI. Jahrg. 8. Heft. (August 1904.)
einem Kunstwerk, einer idealen Vorstellung eine trans-
szendente Macht ahnt und diese Empfindung auf sich einwirken
lässt. Insofern man nun den Spiritismus als Geisterverehrung
, Geisteranbetung, Geister- und Ahnendienst betreibt
, wie dies noch heute in China üblich und in Amerika
wieder Mode geworden ist, oder wie dies noch im katholischen
Kirchenkultus, besonders in den südlichen Ländern,
als Heiligenverehrung aus dem früheren Heidenthum fortbesteht
, wird der Spiritismus allerdings zu einer religiösen
Form. Aber nicht der Verehrungsgegenstand, sondern die
Thätigkeit in Form der Verehrung ist religiöser Natur.
Thatsächlich kann auch jeder andere Gegenstand Objekt
einer Verehrung werden. Die in erbaulichem Tone gehaltenen
Trancereden waren nun — neben dem Gefühl,
einer räthselhaf ten, geheimnissvollen, unbekannten Welt
gegenüber zu stehen — der eigentliche Anlass, dass man
von dem Forscherweg ab- und den religiösen Bahnen sich
zuwendete. Nebenbei war es leichter und bequemer, sich
anregen, unterhalten, von einer Gefühlswoge sich forttragen
zu lassen, als mit geistiger Anstrengung und Vernunftarbeit
aus den Kundgebungen eine neue transszendente
Wissenschaft aufzubauen.
Ist aber der stumpfe und stumme Geistetdienst eines
gebildeten Menschen würdig? Ist er nicht ein Rückfall in
überlebte Formen, bezw. in einen vorübergehenden Entwicklungszustand
der amerikanischen Volkspsyche? Die
erhebenden Gefühle bei den besseren Kundgebungen können
wir auch beim Anhören einer guten Predigt, einer schönen
Vorlesung oder eines stimmungsvollen Musikstückes erhalten.
Dazu brauchen wir keine Geister! Richtig ist es allerdings,
dass wir keine Allotria von jener Seite, sondern alles in
würdiger Art und Weise erwarten, ebenso wie wir in der
Kirche ernste Choräle und keine Gassenhauer im Geschmack
der Heilsarmee suchen. Aber keinem Verstorbenen gebührt
ein christlich religiöser Kultus, der nur der Gottheit zukommt
. Alle christliche Religion vollends hat im Gottes-,
nicht im Geisterdienst zu wurzeln, und wir haben das
eventuelle Mittel, um Verehrungsempfindungen in uns auszulösen
und anzureizen, nicht mit dem einzigen zulässigen
Verehrungsgegenstand, der Gottheit, zu verwechseln.
Die eine kirchliche Richtung verwendet vorzugsweise die
Kunst, die andere die Vorstellung von den Naturkiäften,
eine dritte den Wunderglauben, eine vierte mehr das gesprochene
Wort zur Erzeugung der religiösen Empfindungen,
und man bezeichnet es stets als ein Zeichen eines ziemlich
tiefstehenden Intellektes, wenn das Anregungsmittel zugleich
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