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508 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 8. Halt. (August 1904.)
Wie dieser ausserordentliche Wechsel sich vollzog, darüber
berichtet das Buch. Der erste Theil des Buches ist Helen
Keller** Selbstbiographie; eine Erzählung von der anziehendsten
Aüfrichtigkeit und Einfachheit und von zärtlicher Dankbarkeit
gegen jene, die sie aus der Welt des Schattens in das
Licht des Tages hoben. Dann folgt eine Auswahl ihrer
Briefe, die den Fortschritt von dem ersten, halbverständlichen
Gespräch in Substantiven bis zum vollen, fliessenden
Ausdruck späterer Jahre offenbaren. Im dritten Theil wird
die Darstellung derer gegeben, die geholfen haben, dieses
geheimnissvolle, von den gewöhnlichen Bekundungen der
Sinne abgeschnittene Bewusstsein zur Lebenskraft zu entwickeln
, in Verbindung mit der Aussenwelt zu bringen
und zu einem Leben voller Wissbegier und Glück durchzubilden
.
Von den in den ersten Tagen gesehenen und gehörten
Dingen blieben sehr schwache Erinnerungen zurück. „Wäh*
rend der ersten 19 Monate meines Lebens hatte ich einen
Schimmer von breiten, grünen Feldern, leuchtendem Himmel,
Bäumen und Blumen, die selbst die folgende Dunkelheit
nicht ganz auslöschen konnte. Das Buchstabiren in die
Hand war das erste Mittel zum Verkehr mit der Aussenwelt
; mit dem plötzlichen Begreifen, dass W— a-s— s—e—r
das wundervolle kühle Etwas bedeute, das über meine
Hand floss, war plötzlich eine Thür aufgesprungen. Jene
lebende Welt erweckte meine Seele, gab ihr Licht, Hoffnung
Freude, machte sie frei!" Zum ersten Mal kam der Sinn
moralischer Verantwortlichkeit in das Leben. „Ich erwog,
was ich gethan hatte, und zum ersten Mal fühlte ich Beuo
und Trauer, zum ersten Mal sehnte ich mich nach einem
neuen kommenden Tag."
Dann kam die Schwierigkeit, die abstrakten Begriffe
zu verstehen. „Was ist Liebe?" fragte ich. Sie zog mich
näher an sich und sagte: „Hier ist sie,41 und zeigte auf
mein Herz, dessen Schläge mir zum ersten Mal bewusst
wurden. Ihre Worte gaben mir sehr zu denken, weil ich
damals nur das verstand, was ich berührte. Ich roch die
Veilchen in meiner Hand, und fragte halb in Worten, halb
in Zeichen eine Frage, die bedeutete: „Ist Liebe die Süssig-
keit der Blume ?" „Nein", sagte meine Lehrerin. Ich
dachte wieder nach. Die warme Sonne schien auf uns.
„Ist das nicht Liebe?" fragte ich und zeigte auf die Richtung,
aus der die Sonne kam. Später, als die Sonne aus den
Wolken brach, fragte ich wieder: „Ist das nicht Liebe?"
„Liebe ist etwas wie die Wolken, die am Himmel waren,
ehe die Sonne heraus kam," lautete die räthselhafte Ant-
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