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522 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 9. Heft (September 1904.)
dirung zu einer sittlichen erkennt und will dem sozialen
Elende steuern. Bei der Untersuchung über die materiellen
Ursachen der Verbrechen kommt sie zu dem sehr richtigen
Schlüsse, dass der Verbrecher auch ein Produkt sozialer
Missstände sei, dass Verbrechen und Prostitution bei der
Massenverelendung steigen, was sich statistisch nachweisen
lässt: »Der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen
",*) sagt sie, welche Verantwortlichkeit des Ganzen,
wie Oeningen (in seiner „Moralstatistik") sehr richtig bemerkt
, die Verantwortlichkeit der Theile nicht aus-, sondern
einsehliesst.**) Das „junge Deutschland" huldigte Bettina
ob ihres Freimuths und die „Sibylle der Komantik" war
dazu berufen, die Periode des reinen Kunstzeitalters abzu-
schliessen und zum Zeitalter des Liberalismus und Sozialismus
himiberzuleiten, wie Brandes so treffend sagt. „Das
Wesen des deutschen Idealismus ist die Freiheit/* war ein
Wort des älteren Fichte gewesen und drei Frauen waren
es gewesen, welche diese Freiheit in ihrer elementaren
Form: als Individualismus zum Lebensprinzip erhoben
hatten. —
In Theaterkritiken, dramaturgischen Abhandlungen,
ästhetischen Betrachtungen die Ideen des politischen Fortschrittes
zu verhüllen und durch all derlei doch im freiheitlichen
Sinne zu wirken, das war die Kun3t Lob Baruch's, der
sich seit seiner Taufe (1817) Ludwig Börne nannte. In der
Zeit der schwülsten Restauration, wo die Blätter nur elenden
Theaterklatsch über die Taglioni und Fanny Elssler, über
das bekannte glückliche Familienleben des betreffenden
Landesvaters oder Saphir's widerliche Witze zu bringen
wussten, aber beileibe nichts Inner-Politisches, da gründete
der Frankfurter Polizeiaktuarius a. D. Börne seine schneidigen
Zeitschriften: „Die Zeitschwingen44 und später „Die
Waage,44 in welchen er das herrschende Regierungssystem
mit Skorpionen geisselte. Börne ist ein Meister der Ironie
und Satire; er ist der grösste deutsche Pamphle-
*) B. v. Arnim „Dies Buch gehört dem Könige!* p. 376.
**) AI th Oeltingen: „Die Moralstatistik. Induktiver Nachweis
der Gesetzmässigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der
Menschheit" (1868). Er sagt: „Der Verbrecher ist im gewissen Sinne
zugleich immer Organ der Gesellschaft und Ausdruck ihrer Gesetzlosigkeit
, aber er ist es nie ohne eigene Schuld, weil er nicht zur
That gezwungen, sondern nur verlockt worden ist, verlockt vor
Allem von seiner eigenen Lust.* Der Verbrecher ist zugleich ein
Produkt sozialer Missstände und insofern eine „Kollektivschuld"
der Gesellschaft. Mit den Ursachen der Verbrechen mehren sich
die Verbrecher. Das lehrt uns mit erschreckender Deutlichkeit die
Statistik mit ihrem trockenen Zahlenmaterial.
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