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Dankmar: Geistige und soziale Strömungen etc. 525
man sich an sein Verhalten während des Freiheitskampfes.
Er fühlt sich von der Kriegsbarbarei abgestossen und entflieht
missmuthig nach Teplitz, um sich „mit Eigensinn in
die chinesische Geschichte zu versenken.* Im Januar 1807,
also drei Monate nach Jena, schrieb Knebel (der alte Freund
Goethes und Erzieher des Herzogs Karl August) an Jean
Paul, „dass Goethe die ganze Zeit mit Optik beschäftigt
war. Wir studiren hier unter seiner Anleitung Osteologie,
wozu es passende Zeit ist, da alle Felder mit Präparaten
besät sind." Diese Stimme aus Goethe's intimstem Kreise,
welcher die „gebleichten Gebeine der Gefallenen zum Studium
der Knochenlehre benutzte," ist zu charakteristisch in
ihrer „kalten Gleichgültigkeit" gegen noch so gewaltige
Äussere Vorkommnisse.*) Goethe'* zum höchsten Humanismus
abgeklärtes Griechenthum fühlte sich von Vielem abgestossen
; an zeitbewegenden Fragen, an den Leiden der
ihn umgebenden Gesellschaft, an Fragen, welche die soziale
Umgestaltung betreffen, ging er gelassen vorüber. Das lag
eben ausserhalb Goetke's Wesen; dieses wurzelte noch im
18. Jahrhundert, in weichem viele moderne Probleme noch
gebunden ruhten, nur latent vorhanden waren; Goethe's
grosses fortschrittliches Wirken lag auf wissenschaftlichem,
religiösem und ästhetischem Gebiete, das ethische, das soziale
lag ihm ferner; in dieser weisen Beschränkung lagen
aber zugleich seine erhabenen Vorzüge. Der Begriff
T Goethe a im Ganzen genommen ist ein Kunstwerk. „Börne
wollte eine Poesie, die dem Allgemeinen diente, Goethe's
Poesie wurzelte in der Persönlichkeitsagt Proells. Deshalb
stiessen sie sich gegenseitig ab.
Börne wollte den Armen und Bedrängten helfen: sein
Lieblingsdichter war Jean Paul, für dessen Schwächen er
allerdings ebenso blind war, wie für Goethe's Vorzüge.
Einer der Grundquadern seines Gedankensystems ist die
herrliche, unvergleichlich-schöne Gedenkrede auf Jean Paul;
*) Uebrigens erklärt H. Heitie (in „Zur Geschichte der Eeligion
und Philosophie in Deutschland", III. Buch) Goethe'% Theilnahms-
losii^keit in diesen Dingen geistvoll, wie folgt: „Man berücksichtigt
nicht troethe'B Lage. Dieser Biese war Minister in einem deutschen
Zwergstaate. Er konnte also nie natürlich sich bewegen. Man
sagte von dem sitzenden Jupiter zu Olympia, dass er das Dachgewölbe
des Tempels zersprengen würde, wenn er einmal plötzlich
aufstünde. Dies war ganz die Lage Goethe in Weimar; wenn er
aus seiner stillsitzenden Euhe in die Höhe gefahren wäre, er hätte
den Staatsgiebel zerbrochen, oder, was noch wahrscheinlicher, er
hätte sich daran den Kopf zerstossen." In einem Briefe an Varnhorn
nennt Heine ihn „das grosse Zeitablehnungsgenie, das sich
selbst letzter Zweck gewesen/'
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