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Dankmar: Geistige und soziale Strömungen etc. 527
Nicht auf den freien Höhen des Pere Lachaise, dem
Kirchhof der Beichen, wie Börne, auf dem Friedhofe der
Verbannten, Geächteten, dem ruhigen Montmartre, liegt
einer der Grössten begraben, der dort am 20. Februar 1856,
einem Tag voll Nebelfrost, beigesetzt wurde: Heinrich Heine.
Wohl ein Grosser, ein Genius, aber keine fleckenlose,
schattenfreie Lichtgestalt. Ein Charakter war Heine freilich
nie. Aber nur kleinliches Philisterium und elende Tar-
tüfferie kann über seinen Fehlern, welche theilweise in
seiner Veranlagung, theilweise in den Zeitumständen,
grösstenteils aber in seiner Stellung als Jude und Exi-
lirter wurzelten, seine glänzenden Vorzüge als Lyriker und
Prosaiker vergessen. Man hat Heine den deutschen Byron
genannt und die poetische Veranlagung Beider hat Aehn-
lichkeiten, aber mit dem Unterschiede, dass Byron eine viel
grössere epische Gestaltungskraft, ein titanenhafteres Selbst-
bewusstsein besass, während Heine über süssere Naturlaute,
über einen viel stärkeren Wirklichkeitssinn und einen
sprühend - schärferen Witz, der oft zur Selbst Verhöhnung
wurde, verfügte. Auch war ihr Wirken nach Aussen, das
auch Aehnlichkeiten aufweist, in Manchem verschieden;
völlig verschieden aber die Lebensschicksale der Beiden:
der selbstbewusste, seiner Standesgenossen spottende englische
Peer, der zu Missolunghi im Freiheitskampfe gegen
islamitische Horden fällt, und der um seine bürgerlichen
Rechte kämpfende Düsseldorfer Jude, der in seiner „Pariser-
Matratzengruft" erstickt . . Auf Beider Antlitz hatte aber
der Genius weltschmerzlicher Poesie sein unauslöschliches
Mal gedrückt!
Spiessbürgerlich-scheinheilige Moral und serviler, schweifwedelnder
Konservatismus haben es gewagt, Heine als Hasser
seines deute chen Vaterlands und als bezahlten Franzosenfreund
hinzustellen. Gewiss hatte Heine blutigen Hohn geschüttet
auf sein Vaterland, ob der Schmach, welches dieses
sich von „Pfaffen und Junkern", von Hierarchie und Feudalwesen
anthun Hess. In seiner Jugendlyrik und in der Prosa
des gereiften Mannesalters trat er für die Emanzipation
der mündig gewordenen Völker ein. „Mögen immerhin
einige philosophische Kenegaten der Freiheit die feinsten
Kettenschlüsse schmieden, um uns zu beweisen, dass Millionen
von Menschen geschaffen sind als Lastthiere einiger
tausend privilegirter Eitter; sie werden uns dennoch nicht
davon überzeugen können, so lange sie uns, wie Voltaire
sagt, nicht nachweisen, dass jene mit Sätteln und diese mit
Sporen an den Füssen zur Welt gekommen sind/1 Für Heine
ist das Volk, in seinem Gesammtwillen, der wahre Kaiser,
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