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v, Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre ete. 559
Umständen hat der mit besonders kräftigen Nerven und
heiterem Temperament Begabte mehr Freude an der
Aussenwelt, als der Durchschnittler, und dieser wieder
mehr als der Melancholiker. Wer nach langem Siechthum
und Stubenarrest sich wieder in den Besitz von Gesundheit
und Freiheit versetzt sieht, findet das Leben wie verklärt
, die Häuser und Gärten seiner Stadt, die Bewegung
auf deren Strassen, das Treiben im Innern der Höfe und
Wohnräume anziehend, anregend, gemüthlich, ja malerisch.
Hat Einer gar jahrelang im Exil, im Gefängniss u. s. w. geschmachtet
, so können sich die ersten Eindrücke des Wiedergewonnenen
bis zur Exaltation und Begeisterung steigern*
Nun fragt sich, wer denn eigentlich in allen derartigen
Beispielen Becht hat, Diejenigen, welche die
Aussenwelt als vorwiegend gut, förderlich, wohlgestaltet
aufnehmen, oder jene, denen sie in Folge von Gewohnheit
oder eines träger verlaufenden Lebensprozesses abgeblasst,
oder gar in Folge von krankhafter Gemüthsverdüsterung
verfinstert und verdreht erscheint? Letzteren hier noch
weiter Rechnung zu tragen, dieser Mühe wird man mich
hoffentlich überheben; dass aber auch jene, gegen die
energisch Wahrnehmenden gehalten, im Sinne der okjek-
tiven Wahrheit den Kürzeren ziehen, ist nicht zu bezweifeln
. Wenn die Gegenwart eines gröberen Körpers,
der unsere Hautfläche berührt, in Folge von Gewohnheit
nicht mehr bemerkt wird, so folgt daraus noch nicht, dass
er nicht da sei. Die gehobene Gemüthsstimmung und der
energischere Lebensprozess, die in jenen Beispielen stattfinden
, reichen an sich allein immerhin nicht aus, das Objektive
in verklärtem Lichte erscheinen zu lassen; auch
von Seiten der Aussenwelt muss ein Grund dazu da sein.
Aus dem besten musikalischen Instrumente lässt sich wenig
machen, wenn die vorgetragene Weise ein Geklimper, eine
Kakophonie ist oder wenn der Vortragende nichts von
seiner Kunst versteht. So lassen sich auch die Akkorde
der Seele durch schlechte, widerliche oder scheussliche
Dinge der Aussenwelt nicht wachrufen. Ferner vermögen
ja auch diejenigen Objekte des Lebens, die auf eine frisch-
gestimmte Seele anregend wirken, dies lange nicht alle in
demselben Grade; z. B. ein Alltagstreiben auf Hof und
Strasse ist jenen feierlich melodischen Gefühlen nicht gewachsen
, die uns in der Stille eines Hochwaldes, einer
Vollmondsnacht u. dgl. beschleichen. Kurz, so gross immer
die Bedeutung der subjektiven Zustände bleibt, auch die
objektive Welt predigt uns laut ihre ßetheiligung an dem
Guten und Schönen, als welches sie sich in der mensch-
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