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560 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 9. Hett, (September 1904.)
liehen Seele wiederspiegelt, wohlverstanden in einer solchen
, der gewohnheitsmässige Mattigkeit fremd ist.
Wenn nun selbst Menschen, denen eine künstlerische
Begabung abgeht, d. h. die für das Schöne im engeren
Sinne kein spezielles psychisches Wahrnehmungsorgan besitzen
, unter gewissen Bedingungen das Durschschnittsbild
der Welt als ein vorwiegend gutes, anregendes, ja an-
muthiges wahrzunehmen im Stande sind, so entdeckt ein
höherer Schönheitssinn in ihm noch viel mehr. Dass z. B.
der ästhetische Sinn für Naturschönheit sich bei einem
Volke erst auf einer gewissen Stufe geistiger Entwickelung
einstellt, ist bekannt; und so steht es auch mit anderen
Dingen im Reiche des Schönen. Besitzt nun jemand einen
noch stärker entwickelten Sinn für ein einzelnes oder für
mehrere Gebiete des Schönen und vermag er dabei so weit
zu kommen, dass er die von aussen aufgenommenen Schönheitselemente
noch selbstständig zu höheren und schöneren
Gruppen zusammenfügt, dann haben wir den Kün stier vor uns.
; J Besitzt dieser aber die Gabe, die Schönheit des Seienden
in deren höherer Potenz wahrzunehmen, ja selber an
deren Entstehung mitzuwirken, so würde daraus folgen,
dass ein echter Künstler das Dasein in dessen hellstem
Lichte erblickt, mithin ein Optimist höheren Grades sein
muss. Dass wenigstens der grosse Künstler dies in der
Regel wirklich ist, kann als Thatsache gelten; doch gehören
zu ihrer Erklärung noch verschiedene ergänzende
Bedingungen und ganz besonders die Folgerichtigkeit seines
Denkens über das Welträthsel.
Zunächst muss festgehalten werden, dass eine grössere
Empfänglichkeit für das Schöne, Wahre und Gute der
Welt zugleich und nothwendigerweise auch von einer
grösseren Empfindlichkeit und einem schärferen Gedäeht-
niss für die Dissonanzen des Daseins, die sich im
U e b e 1 bekunden, begleitet wird. Daraus wäre also zu
folgern, dass, falls es sich um einen Geist handelt, der das
Uebel im absoluten Sinne nimmt und kein Ideal der Ausgleichung
kennt, die letztere Gefühlssteigerung der ersteren
einen Hemmschuh anlegen müsse, eine endgültige Steigerung
des Optimismus demnach nicht eintreffen könne; denn
je stärker der Glanz des Daseins, desto dunkler und trauriger
muss die Negation desselben erscheinen. Damit wäre
es jedoch noch nicht abgethan. Es wurde in Obigem schon
mehrfach nachgewiesen, dass je feiner das Gefühl eines Menschen
sich entwickelt, je schärfer sein Gefühlsgedächtniss
und je klarer seine Voraussicht ist, desto eher er im
JPalle einer nichtidealistischen Weltanschauung zum Pessi-
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