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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre etc. 561
mismus hinneigen müsse. Eine momentane Wahrnehmung
des Gesammtdaseins, die man mit einer Moment-
photographie vergleichen könnte, würde einem nur für den
Augenblick funktionirenden Geist das Leben allerdings in
seiner vortheilhaftesten Gestalt oder doch immerhin ein
gewaltiges Vorwiegen des Wohls über das Uebei zeigen.
In einem Bewusstsein aber, welches sowohl die verschie-
denen Gebiete der Gegenwart zu einem Durchschnittsbilde
zusammenfügt, als auch das Gegenwärtige mit dem Vergangenen
und dem Zukünftigen verknüpft, muss der Stachel
des Daseins mit Bezug auf das nichtausgeglichene
Uebel die Empfindung des (verhältnissmässigen) Guten verdunkeln
, und zwar desto stärker, je fester und ausgebreiteter
jene Verknüpfungen sind. Denn es wäre offenbar
besser, gar kein Gutes zu kennen, resp. gar nicht zu existiren,
als sich den Genuss desselben durch das Erwarten einer endgültigen
Vernichtung vergiften zu müssen; es wäre besser,
gar nicht gedacht und geliebt zu haben, als die Objekte
dieser Lebensäusserungen einem unausfüllbaren und unerbittlichen
Abgrund entgegeneilen zu sehen; es wäre besser,
gar kein fühlendes Wesen zu kennen, als einen so grossen
Theil derselben von entsetzlichen, unverdienten und nicht
auszugleichenden Qualen gefoltert zu sehen. Kurz eben das
Gute und Schöne schlägt unter der Voraussetzung einer
nimmer eintreffen sollenden Ausgleichung des Weltübels
in das Gegentheil um und wird schliesslich als Böse«
empfunden. Daher müssten denn auch die grössten
Geister unfehlbar zu den grössten Pessimisten zählen, wenn
ihnen nicht auch zugleich jene, ihnen fast ausnahmslos
eigene, unverrückbare allgemeine Logik innewohnte, welche
sie lehrt, das Uebel nicht einmal blos als die unvermeidliche
Schattenseite des Guten zu betrachten, sondern geradezu
als eine nothwendige Vorbedingung des Guten und
des Fortschritts zu deuten.
Dabei müssen wir uns jedoch wieder jener Unterscheidung
zweier Arten von Pessimismus wie Optimismus erinnern
. Viele, vielleicht die meisten der grossen bildenden
. Künstler und Dichter beurtheilten ihr eigenes Dasein und
das gegebene All im Lichte ihres Alltagsgefühls
als mehr oder weniger schlecht, also pessimistisch, und
zwar zum Theil deshalb, weil sich bei Künstlern notorisch
recht oft eine krankhafte Nervendisposition und damit ververknüpfte
organische Neigung zur Schwermuth vorfindet.*)
*) Darüber ausführlicher S. 196—199 meines Buches „Gesund
heit und Glück*.
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