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562 Psychische Studien. XXXI, Jahrg. 9. Heft. (September 1904.)
Dass sie trotzdem in Folge einer soliden Weltdeutung im
grossen Ganzen Idealisten bleiben, also das Ali im Sinne
der letzten Dinge optimistisch zu betrachten vermögen,
ist wiederum Thatsache und wird z. B., wie schon gesagt,
durch Byron illustrirt. Kommt nun gar die Stunde der
Begeisterung über sie und lässt sie das Schöne und Gute
des Daseins in gesteigerter Potenz wahrnehmen, dann fühlen
sie das gesammte Uebel der Welt in Harmonie aufgelöst,
wie sich Beethoven ausdrückte, dann schwingen sie sich zu
herrlichen, seelenstärkenden Gesängen und Melodien empor,
dann empfangen sie die hehren Linien bezaubernder Bilder
und erhabener Dome.
Und dass die Kraft, mit der sie in solchem Stunden
das Gute der Welt wahrnehmen und dasselbe noch durch
die aus ihrem Innern heraus klingenden Harmonien ergänzen
, schon an sich eine gewaltige Stütze der idealistischen
Weltanschauung sein muss, ist klar. Schon die
Betrachtung von malerischen Landschaften und feierlich
schönen Naturszenen, zumal wenn sich damit geschichtliche
Erinnerungen und gesellschaftliche Betrachtungen vermählen,
führt den Begeisterten öfters unwillkürlich auf andächtige
Gedanken; denn es erscheint seinem Bewusstsein geradezu
widersinnig, dass solche hohe Schönheit nicht auch der Abglanz
einer in der Welt wirklich vorhandenen Harmonie sei,
die im Plane des Alls liegt, sich aber von unserem Auge
nur hier und da in weihevollen Stunden erschauen lässt.
So fühlte z. B. Byron, als er sein herrliches „Ave Maria'4
im Walde von Ravenna zur Zwielichtsstunde dichtete.*)
*) Don Juan, Canto III, 101—108. Dass hier die Zeilen, die
sich auf die Anrufung der Maria beziehen, indirekt zu verstehen
sind, d. h. dass die Klänge dieses katholischen Abendgebets, die
so schön zur Abendstille der Natur passen, in dem Dichter nur
durch Assoziation den Anstoss zu höheren Kegungen gaben, versteht
sieh von selbst. Ein Aehnliches geschient auch heutzutage
jedem Aufgeklärten, der sich trotz seines nüchternen Denkens durch
Schuberts ergreifendes Musikstück oder durch eines der bekannten
Bilder desselben Titels tief ergriffen fühlt. Ich kann es mir nicht
versagen, hier noch ein in neuester Zeit entstandenes Lied anzuführen
, wo das Gefühl der Andacht eben durch Naturschönheit
angeregt wird. Es ist dies der „Waldsegen* von Albert Lindner:
Die stillen Sonnenlichter
Spielen im Waldesdom,
Weit unten im Thale gleisset
Von ihrem Gold der Strom.
Mit meines Herzens Schlägen
Allein, so weit ich spähM
Fernab in der Schlucht nur wiegt sich
Lautlosen Flugs die Kräh'.
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