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Zur Psychologie der Todesstunde.
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Todesfurcht unterdrücken, aber auch verstärken können.
Der Einfluss der Kultur auf die Zunahme der Abneigung
gegen das Sterben bleibt dabei deutlich erkennbar und auch
erklärlich; denn mit der Kultur wächst der Selbsterhaltungstrieb
und die Liebe zum Leben, das durch sie einen
reicheren Inhalt und deshalb grösseren Werth gewonnen hat*
Man kann daher geradezu sagen, dass die Abnahme der
Todesfurcht ein schlechtes „Zeichen der Zeit11 ist, und in
die gleiche Richtung verweist selbstverständlich die Zunahme
der Selbstmorde. Die vergleichende Forschung lehrt, dass
die Germanen von jeher mehr am Leben hingen als die
Südromanen oder die Slaven, so dass also auch Rassenunterschiede
dabei von Wichtigkeit sind. In gewisser Beziehung
muss die Todesfurcht als thöricht gekennzeichnet
werden. Das Leiden, das zum Tode führt, wird meist
schmerzlos sein, weil mit dem Bewusstsein auch jedes Gefühl
schwindet. („Leipz. Tagebl.tt vom 16./VI. er.)
Kurze Notizen.
a) Zur Magie der Zahlen (vergl. Maiheft S. 324).
Unter der Ueberschrift: „Das „ill fatum" der Norge"
bringt Heft 31 der „Woche" vom 30. Juli er. die Abbildung
der aus dem Hafen von Hoboken mit Volldampf flüchtenden
,,Norge", mit den von den brennenden Docks und Schiffen
aufsteigenden Rauchsäulen im Hintergrunde, und bemerkt
dazu: Am 30. Juni 1900, jenem „Schreckenstag", an dem
3 deutsche Dampfer — „Saale", „Main" und „Bremen" —
dem verheerenden Feuer zum Opfer fielen, das die Doeka
des Norddeutschen Lloyd in Hoboken vernichtete, lag die
„Norge" gleichfalls in ihrem Dock, das an die des Nordd.
Lloyd angrenzt. Die „Norge" verliess nach Ausbruch des
Feuers ihren Pier und fuhr auf den Hudson hinaus. Als
ein höchst eigenthümlicher Zufall muss es wohl
bezeichnet werden, dass das unglückliche Schiff genau
4 Jahre nach jenem denkwürdigen 30. Juni 1900, an dem
es dem Schicksal, vom Feuer vernichtet zu werden, entging,
— am 30. Juni 1904 von dem feuchten Element verschlungen
wurde.
V) Ueber das Problem der Willensfreiheit
hielt am 14, Juli er. zu Tübingen in der Aula der durch
seine platonischen Studien bekannte Gymnasialprofessor Dr.
Konstantin Ritter vor einer zahlreichen Zuhörerschaft von
Studenten und Dozenten verschiedener Fakultäten eine be-
merkenswerthe Probevorlesung. Aus der Thatsache, dass
wir oft zwischen zwei Willensentscheidungen schweben,
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