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Dr. W. St.: Die Sprache ohne Worte.
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Keineswegs. Es lässt sich der ganze Vorgang unschwer
als einfache telepathische Erscheinung, als eine Seelen-
telegraphie ohne Draht erklären. Die vom Gehirne
des Experimentators ausgehenden Strahlen hatten das
Gehirn der schlafenden Damen getroffen und jene Zentren
in Erregung versetzt, welche das Bild der Erscheinung als
Gedächtnissbild seit längerer Zeit besassen. Diese Erregung
der betreffenden Gehirnzellen, die bisher nur auf dem Wege
der Gesichtsnerven zur Hirnrinde gedrungen waren, konnte
vom Bewusstsein nicht anders als ein visueller
Eindruck gedeutet werden. Das Gehirn warf
den neuen Eindruck ge wissermaass en auf
jenem Wege zurück, auf dem er bisher als
alter Eindruck in dasselbe eingedrungen
war. Auf dieRe Weise ist es zu erklären, wieso jene
merkwürdigen Massen-Halluzinationen zu Stande
kommen, von denen uns die Geschichte des Aberglaubens
so interessante Fälle bewahrt hat. Der Zustand religiöser
Verzückung, mystischer Erregung (man denke an unser
erstes Beispiel!) führt eine Art von Halbhypnose
herbei, in der der eigene Wille dem fremden unterthan
wird, in der Wunsch und Wahn Gestalt annehmen und
sich auf dem Wege der psychischen Infektion von
Gehirn auf Gehirn übertragen.
Wir wollen das nächste Mal von jenen Halluzinationen
sprechen, die ohne den bewussten Willen einer betheiligten
Person zu Stande kommen. Wir glauben, durch Erklärung
dieser Phänomene auf natürliche Weise vielen Menschen
einen grossen Dienst zu erweisen, indem wir sie vor jenen
mystischen Abgründen bewahren, in die sie früher der
Materialismus einer engherzigen Wissenschaft erbarmungslos
geschleudert hätte. Wir zweifeln nicht, dass solche Erscheinungen
auch hier zu Lande häufig vorkommen und
manches abergläubische Gemüth mit Kummer und Sorge
erfüllen. Das UebernatürJiche natürlich zu
machen, ist ja im Grunde genommen die
Aufgabe der populären Wissenschaft.
Wien (N. W. A.), 24. VIII. 04. Dr. W. St.
Kurse Notizen«
a) Astrologisches. In seiner soeben bei 0. Mutze
in wesentlich erweiterter und vertiefter Form (154 S. zum
Preis \on M. 2.40) erschienenen geistvollen Studie „Goethe
und der Materialismus" äussert sich unser hochverehrter
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