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640 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1904.)
storben, dann von ihm obduzirt und zu Grabe geleitet
worden war. Der Verstorbene, der seine Kopfnaht unter
einem schwarzseidenen Mützchen verbarg, trat mit der
chevaleresken Art, die ihm im Leben eigen war, auf seinen
Arzt zu und bat, einen ihm gehörigen Gegenstand an sich
nehmen zu dürfen. Es war dies sein Herz, das in Spiritus
auf einem Sehränkehen stand. Der Arzt, noch viel mehr
beleidigt als entsetzt über diesen Bruch der Naturordnung,
suchte dem Gespenste aufs energischste klar zu machen,
dass es gar keine Möglichkeit und somit auch kein Recht
habe, hier zu sein, weil ja, abgesehen von dem zuvor schon
eingetretenen Tode, die blosse Abwesenheit dieses Muskels
ihm alle und jede Verrichtung, somit auch das Wiederkommen
und das Einfordern desselben verbiete. Der Reve-
nant aber lächelte überlegen und sagte mit spöttischem
Nachdruck: „Ja, lieber Doktor — Eigenschwingung
der Gewebe!" Von diesem nie gehörten Wort, das ganz
neue Gesichtskreise zu eröffnen schien, blieb der Arzt einen
Augenblick erschüttert und gelähmt. Der Todte wollte
schnell den Moment ersehen, sein Eigenthum an sich zu
bringen, da warf jener sich dazwischen, sie wurden handgemein
, in der Erbitterung riss Edgar seinen Degen von
der Wand; das Gespenst, jetzt mit einem Male auch bewaffnet
, parirte und ein fürchterlicher Kampf entspann sich,
wobei der Todte eine klaffende Schädelwunde erhielt , aus
der aber kein Blut floss und die ihn auch nicht im geringsten
zu belästigen schien. Er sagte nur kalt: „Das
wäre mir im Leben aucb nicht passirt", und drang noch
heftiger auf seinen Arzt ein, der gerade am Erliegen war,
als der Eintritt einer jungen Dame, die in jener Zeit täglich
zur Sprechstunde kam, dem entsetzlichen Ringen ein
Ende machte. Voll Verwunderung rief sie: „Ach, Herr
Leutnant, es heisst ja in der Stadt, Sie seien gestorben!"
Dieser hatte sich gleich mit der Hand an der Mütze in
Positur geworfen, wobei er zugleich die Defekte seines
Schädels verdeckte. „Das war ein Irrthum, gnädiges Fräulein
, beunruhigen Sie sich nicht'*, sagte er höflich und verschwand
mit einer tiefen Verbeugung. Der Schläfer aber
erwachte an den Strahlen der Morgensonne." - Es ist eine
alte psychologische Erfahrung — so leitet auch der geistreiche
Naturschilderer Wilhelm ßölsche (Friedrichshagen)
eine in Nr. 18 des „Freidenker' erschienene hübsche Studie
über „Die Auferstehung des Religiösen durch die Kunst"
ein dass Gedanken, d* wir am Tage gewaltsam zurück-
gedrängt haben, im Traum der Nacht desto lebhafter
erwachen. Wie ein geheimes Warnen geht es durch
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