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650 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 11. Heft. (November 1904.)
wir hier nur einige der bedeutendsten Vertreter der Naturwissenschaft
betrachten, besonders wenn diese, über ihre
Fachwissenschaft hinausgehend, das allgemeine kulturelle
Leben beeinflusst haben. — Von dem Hauptgrundsatze
jeder Naturforschung: dass Beobachtung und Experiment
stets ihre Basis sein müssen, dass die induktive Methode
hauptsächlich ihr zukomme, war man zu Anfang des Jahr-
hunderts gerade in Deutschland abgewichen. Statt vor
Allem die Erscheinungen der Natur zu untersuchen, philo-
sophirte man über sie. Seit Bacon von Verulam war eine
Scheidung der grossen, wissenschaftlichen Gebiete eingetreten
; die Schelling'sche Schule suchte wieder Alles unter
einen Hut zu bringen. Freilich gehörte dazu ein Biesengeist
. Wir haben ja schon (Januar-Heft 1904, p. 6—7)
hervorgehoben, dass Schelling es gewesen, der klar und
deutlich den Gedanken der Entwickelung zum ersten
Male auf die Natur angewandt hat. Er hat dies gethan,
»weit deutlicher, als Kant und Goethe zehn Jahre vor
Lamarck, sechzig Jahre vor Darwin: es ist dies eine der
grössten Antizipationen der Philosophie;64*) freilich konnte
für diesen genialen Gedanken damals kein induktiver Nachweis
erbracht werden. — Man stellte Naturgesetze auf, welche
dem „reinen Denken1* entsprechen sollten, und Hegel dedu-
zirte in seiner Habilitationsschrift aus dem Vernunftgetze,
dass es zwischen Mars und Jupiter keine weiteren Himmelskörper
geben könne, obgleich kurz darauf der erste der
400 Asteroiden entdeckt wurde, welche, wie wir heute
wissen, zwischen den beiden Planeten liegen. Ein höchst
freisinniger und charaktervoller Mann, dei Herausgeber der
liberalen „Isis*, war Lorenz Oken (eigentlich: Okenfuss); er
war der geistvollste Vertreter dieser Richtung, welcher, auf
Schelling'$ Schultern stehend, ein alle Reiche der Natur
und deren Elemente umfassendes Natursystem schuf, das
in gewissem Zusammenhange mit der heutigen Entwicklungslehre
(gemeiniglich Darwinismus genannt) steht.
Obgleich aber Oken (f 1851) sozusagen das Haupt der
naturphilosophischen Schule war, so war er dennoch als
Anatom und Physiologe ausgezeichnet; so ist z. B., um nur
Eins zu erwähnen, bekannt, dass er 1806, beim Anblick
des gebleichten Schädels einer Hirschkuh, auf den Gedanken
kam, dass der Schädel eine Vereinigung höher entwickelter
*) Theobald Ztegler: „Die geistigen und sozialen Strömungen des
neunzehnten Jahrhunderts" (Berlin 1899) I. Bd. II, 73 it. — Uebrigens
ist, beeinflusst von Läbniz, schon die Naturphilosophie des grossen
schwedischen Sehers und Mystikers Emanuet Swedenborg völlig vom
Entwickelungsgedanken beherrscht.
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