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682 Psychische Studieo. XXXI. Jahrg* 11. Heft. (November 1904.)
wandten. Betrachtet man den Menschen apart, so steht es
wiederum ausser allem Zweifel, dass die im Laufe der Geschichte
auftretenden höheren Typen nicht nur an intellektueller
Kraft überhaupt reicher als ihre Vorfahren sind,
sondern bei ihnen mit der Zeit neue, dem Menschen als
solche noch völlig unbekannte geistige Eigenschaften auftauchen
, wie z. B. der Kunstsinn, der Sinn für Naturschönheit
, der Wissensdurst, das Gefühl der Menschlichkeit im
weitesten Sinne u. s. w. Wenn auch dergleichen höhere
Eigenschaften lange nicht bei allen Gliedern der Kulturvölker
, geschweige bei ihren einzelnen Individuen übereinstimmend
entwickelt sind, wenn sich ferner zeitweise inmitten
der Kultur selber rückläufige Strömungen zeigen, so
wird es gleichwohl Niemandem einfallen, zu bestreiten, dass
der ganze Vorrath der in den heutigen Kulturmenschen
aufgespeicherten lebensfähigen (progressiven) psychischen
Kräfte unendlich viel grösser ist, als z. ß. derjenige, über
den die Menschen der Steinzeit geboten, früherer, ins Thierreich
hineinragender Ahnen garnicht zu gedenken. Und
dazu kommt, dass selbst die Zahl der Menschen und der
höher entwickelten Völker stetig zunimmt, die Zunahme der
geistigen Energien also in doppeltem Sinne zi; verstehen ist.
Im Einklang aber mit solchem Thatsacbenbefund sehen
wir zugleich unzählige Beispiele, die uns das Wachsthum
der geistigen Energien bei einzelnen Individuen
und Generationen demonstriren und einen Blick in
die Art und Weise des Zustandekommens
jener allgemeinen Thatsache thun lassen, worauf wir noch
zurückkommen werden.
Es fragt sich also, von wo kam dieses ungeheure Plus
von Kraft, von wo alle die neuen Eigenschaften? Sehen
wir etwa, dass die organische und psychische Entwickelung
mit einer entsprechenden Abnahme der umgebenden Naturkräfte
einhergehe, woraus wir vielleicht — in äusserst kom-
plizirter und gezwungener Weise allerdings — auf eine allmähliche
Omgiessung der letzteren in erstere schliessen könnten ?
Nichts Derartiges lässt sich auffinden! Licht, Wärme,
Elektrizität u. s. f. walten nach wie vor und schlechterdings
gar nichts deutet auf ein allmähliches Versiegen ihrer
Quellen hin. Die Totalmenge der von der heutigen Menschheit
konsumirten Nahrungsmittel wird grösser als ehemals
sein; doch ist dies nur die natürliche Folge einer grösseren
Kopfzahl: im Einzelnen hingegen vermag der hochent-
wickelte Kulturmensch von quantitativ weniger Nahrung zu
leben, als der Barbar. Der alltäglichsten Erfahrung gegenüber
sollte man es überhaupt für unmöglich halten, dass es
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