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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre ete. 683
jemand bei gesundem Sinne hätte einfallen können, Ernährung
und Stoffwechsel für die direkten Quellen psychischer
Geschehnisse im Allgemeinen und neu auftauchender
organisch - psychischer Eigenschaften im Besonderen zu
halten. Denn sonst müssten ja die grösste Energie des
Stoffwechsels und die stärkste Ernährung gleichbedeutend
mit einem Maximum von psychischen Fähigkeiten sein; der
Maulwurf und die Maus, deren tägliche Nahrungsration
ihrem ganzen Körpergewicht gleichkommt,*) müssten die
klügsten Thiere sein, geniale Menschen aber, deren Leistungsfähigkeit
das Können von Tausenden mittelmässig begabter
Köpfe übersteigt, müssten ein ganz unglaublich starkes
Nahrungsbedürfniss aufweisen, oder aber ganz besonders
qualifizirter Nahrungsmittel bedürfen, während wir that-
sächlich eher das Gregentheil hiervon wahrnehmen***) Und
doch wären solche ungeheuerlichen Postulate nur die n o t h -
wendigen Folgerungen jenes materialistischen Grund-
dogmas, welches die psychisch - intellektuelle Thätigkeit für
nichts als für Verwandlung oder Umgiessung der dem Gehirn
als Denkorgan mit dem Blute zugeführten chemisch
potentiellen Kräfte hält.***) Sobald sich letztere zeigen,
müssen doch gewisse neue Eigenschaften auftreten; für
deren Grundursache aber werden einfach Ernährung
und Stoffwechsel hingestellt, und die Anpassung ist
nichts als die „Folge aller jener Veränderungen, welche
die äusseren Existenzbedingungen in der Ernährung
der Elementartheile, die Einflüsse der umgebenden
Aussenwelt im S t o f f w ec h s e 1 und W a c h s t h u m des
Organismus hervorbringen.tt
Die Unklarheit und Willkür dieser Erklärung bekundet
sich zunächst darin, dass hier Stoffwechsel, Ernährung und
Wachsthum ohne Weiteres zusammengeworfen werden, indes
doch eine eingehendere Beobachtung lehrt, dass die
Energie des ersteren keineswegs immer in derselben Eich-
*) Die tägliche Fleischration der Spitzmaus wiegt sogar doppelt
so viel, wie ihr Körpergewicht (»Die Natur*, 1900, 1).
**) Während ein „Möns. Herkules* als „Kraftmensch* ungeheure
Mengen von (vorzugsweise animalischer) Nahrung seinem physischen
ßedürfniss entsprechend täglich zuzuführen pflegt, führten die
Geistesgrössen der Menschheit von jeher vielfach eine fast asketische
Lebensweise und sind noch heutzutage häufig bedürfnisslose Vegetarier
.
***) Dass man auch in der Entwicklungslehre nach den beliebten
Erklärungsmitteln von Stoffwechsel und Ernährung griff, versteht
sich von selbst. So lautet z. B. auch die „Erklärung*, die uns
Hüchel („Natürliche Schöpfungsgeschichte,* 1889, S. 210) für die
organische Abänderung und Anpassung giebt.
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