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706 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 11. Hetr. (November 1904.)
sich doch stetig die Stimmen derjenigen , die, ohne ein endgiltiges
Urtheil zu gestatten, dieser Anschauung energisch entgegentreten
und, auf Grund eigener Erfahrung, sowie gründlicher Kenntniss der
einschlägigen Fachlitteratur vielmehr feststellen, dass sowohl in der
Jugend als in der eigentlich mannbaren Periode durch erzwungene
Enthaltsamkeit leichtere und schwerere Verstimmungs-
zustände entstehen, die bei entsprecheLder (hysterischer) Veranlagung
sogar Geistesstörungen und Lebensüberdruss erzeugen
können. Es giebt auch Störungen der Gesundheit, die jenseits von
Stethoskop, Plessimeter und Reagensglas liegen; denn zum Begriff
der „ Gesundheit * gehört vor Allem auch das eigene, sich in Schaffensfreudigkeit
äussernde Gefühl des Wohlbefindens. Verf.
bestreitet die Berechtigung der Empfehlung des event. auch „illegitimen
" Beischlafs on Seiten des Arztes, wenn sie nur zur Sicherung
der Diagnose (z. B. der Heilung von Gonorrhoe, wofür andere,
noch dazu vollkommenere Mittel zur Verfügung stehen) erfolgt, erkennt
sie dagegen unter besonderen (je individuell zu beurtheüen-
den) Umständen rückhaltslos an, wo ein temporärer oder habitueller
Geschlechtsverkehr aus prophylaktischen und therapeutischen
Grinden angezeigt erscheint, wobei es jedoch die unbedingte Pflicht
des Arztes ist, dann seinen Klienten (zumal den weiblichen) auch
sachverständige und streng wahrheitsgemässe Aufklärung über die
mit dem „Coitusextramatrimonium* verbundenen Gefahren zugeben
und die sorgfältige Anwendung der gegen syphilitische Infektion
und Konzeption wirksamen Verhütungsmittel dringend ans
Herz zu legen. Wie der vorurtheilslose Arzt auch der verheiratheten
Frau in gewissen Fällen (z. B. bei Tuberkulose, JSephricis oder
einem Herzfehler) die Verhinderung einer Konzeption aus medizinischen
, wie humanitären Gründen — schon mit Kücksicht auf
die unausbleibliche Degeneration der Nachkommenschaft anempfehlen
muss, so darf er sich nicht scheuen, von diesem seinem
Kechte auch in anderen Fällen Gebrauch zu machen. Andererseits
muss es aber freilich vom rein menschlichen Standpunkte aus als
absolut unmoralisch gelten, jemanden zu einer Handlung zu veranlassen
, die er selbst für unsittlich und daher unerlaubt hält oder
die ihm unabänderliche äusserliche Verhältnisse verbieten. So
wenig der pflichtbewusste Arzt einem Schlosser oder Steinträger,
der sich und seine Familie mit seiner Hände Arbeit ernähren muss
und für den ein Berufswechsel ausgeschlossen ist, oder der anämischen
Proietarierfrau ohne Weiteres sagen wird, ihr Leiden rühre von
ihrer schweren Arbeit und schlechten Ernährung her, darf er z. B.
dem katholischen Geistlichen, der sich durch den Bruch seines
Keuschheitsgeiübdes schwere seelische Qualen bereiten würde, mittheilen
, dass seine Neurasthenie von seiner sexuellen Abstinenz herkomme
; denn die körperliche Gesundheit ist in solchen Fällen, wo
es sich um das Aufgeben der moralischen Existenz handelt, keineswegs
als absolutes Gut zu betrachten Wie heilsam andererseits
die prophylaktischen Mittel gegen Ansteckungsgefahr wirken, beweist
die Statistik über die steigende Abnahme der Geschlechtskrankheiten
3eit Einführung des Präparats „Vinr bei der deutschen
Marine. Eine wirkliche „ freiwillige * Enthaltsamkeit findet man
übrigens, ebenso wie eine „absolute", im Allgemeinen nur bei
Leuten, die entweder von Hause aus oder in Folge — anfangs erzwungener
— Gewöhnung mit einem abnorm geringen geschlechtlichen
Vermögen ausgestattet sind. Dass geschlechtliche
Perversitäten auch auf dem Wege der Suggestionstherapie heilbar
sind, hat u. a. Dr. v. Sehrenck-Notzing nachgewiesen. — Der Werth
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