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Dankmar: Geistige und soziale Strömungen etc. 719
trotz der erhabenen Ruhe, die über vielen seiner Gestalten
liegt, entbehren diese doch nicht des inneren Lebens, im
Gegensatz zum Beispiel zu Goethe's „Natürlicher Tochter".
Sie leben, sie regen sich, diese Marmorgestalten, warmes
Blut fliesst in ihren Adern, sie fühlen und denken menschlich
-natürlich:
Freiheit! Athem der Natur,
Zeiger an der Weltenuhr,
Alles Grossen Wieg* und Thron!
so ruft Rustan aus.
Grillparzer's Mutter hatte im Wahnsinn Hand an sich
selbst gelegt; sein Bruder Karl bezichtigte sich im Wahnsinn
des Mordes, sein jüngerer Bruder Adolf suchte und
fand den Tod in den Wellen der Donau: der Dichter selbst
mit seiner tiefen Melancholie war entschieden erblich belastet
; beim dichterischen Schaffen fasste ihn ein dämonisches
Etwas an, über das er sich selbst nicht Rechenschaft geben
konnte und das für Aussenstehende etwas Schreckhaftes
hatte. Wie eigentlich sensitiv veranlagt unser Poet warf
zeigt unter anderem auch die Beobachtung, welche er an
sich selbst machte: dass in gewissen erregten Zuständen das
Empfinden des Hörens schon an den Schläfen bei ihm begann
, sich über den ganzen Kopf fortpflanzte und an der
anderen Schläfe endigte» „Etwas Aehnliches habe ich auch
in der Mitte der Stirne über den beiden Augenbrauen wahrgenommen
", schreibt er selbst Den Einflüssen der Witterung
war er, gleich der Rakel, ebenfalls sehr unterworfen. Auch
die Musik übte einen faszinirenden Eindruck auf ihn aus*
— Das „Holz gewölbe" in seinem Geburtshause in Wien
(Bauernmarkt 10) bevölkerte der „Franzi" mit Räubern und
Geistern, und als er mit seinem Bruder in Enzersdorf einmal
allein in einem grossen Saale war, glaubten sie Beide
einen Geist zu sehen; darum befragt, wie er ausgesehen,
antwortete Jung-Grillparzer: wie eine schwarze Frau mit
einem grossen Schleier. Wer denkt da nicht an die „Ahnfrau
?" Es hat in der That den Dichter zum Geheimnissvollen
, Schicksalsmächtigen oft hingezogen, wie auch seine
1820 geschriebene, rasch hingeworfene Novelle „Das Kloster
bei Sendomir" beweist. Hören wir, was der Dichter selbst
über die Tendenz der „Ahnfrau" sagt: „Die Poesie kann
des Hereinspielens eines Uebersinnlichen in das Menschliche
nie entbehren. Da uns nun die Wissenschaft darüber
garnichts, oder wenigstens nichts Vernünltiges zu
sagen weiss, die Beligion aber leider mehr im Bewusstsein
als in der Ueberzeugung lebt, so bleibt uns nichts übrig,
als diese Verbindung zweier Welten so zu nehmen, wie sie,
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