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720 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1904.)
einem Grundzuge der menschlichen Natur gemäss, in allen
Zeiten und bei allen Völkern vorgekommen ist. Die Alten
hatten die grandiose Gestalt des Schicksals . . . Diese
grossartige Gestalt ist ja allerdings durch die neueren
Religionen zerstört worden, aber die Trümmer davon leben
unvertilgbar als Votbedeutung und Vorahnung, als Wirkung
von Much und Segen, als Gespenster- und Hexenglauben
fort/' Im Trauerspiel selbst — so sagt er weiter — haben
wir „einen Akt geheimnissvoller Gerechtigkeit'* vor uns.
Wir sind eben mit unseren Vorfahren, denen wir wahlverwandt
sind, durch räthselhafte Kausalitätsfäden verknüpft, stehen
mit ihnen unter einem gemeinsamen Karma, das aber unsere
Willensfreiheit nicht aufhebt, sondern unsern Willen so
lenkt, dass das hereinbrechende Geschick ein selbstverschuldetes
wird. Hinter all den Zufallsverbindungen
steckt eine transzendentale Absichtlichkeit, sowie hinter
unserem eigenen Leben ein geheimnissvoller Regisseur zu
stecken scheint. Streng nach einem unbekannten, aber
logischen Gesetze regelt sich das Dasein von Geschlechtern
und jede einzelne Individualität ist ihre eigene Willens-
that, der Ausdruck ihrer ethischen Vergangenheit, und trägt
ihre Kausalität in sich. Dieser können wir nicht entfliehen;
wir können das „Schicksal" nicht abwenden, selbst wenn
wir es — wie im „zweiten Gesichte" — kommen sehen«*)
Das will Grillparzer sagen, als er die schuldlos-schuldigen
Borotins durch der „Schlüsse Schauermacht" zu Grunde
gehen lässt. Die Atmosphäre des Gespenstigen, Geisterhaften
, welche gleich einer düsteren Wetterwolke über dem
Stücke lagert, ist genial geschaffen; aber nicht nur Moderdüfte
und Grauen athmet dieses Gespensterreich aus,
sondern wir begegnen auch — z. B. bei der ersten Erscheinung
des Gespenstes vor Jaromir's Bett — realistisch
übersinnlichen Zügen, die fein beobachtet sind. In „Der
Traum ein Leben" oder (»Des Lebens Schattenbild", wie
das Stück ursprünglich heissen sollte) handelt es sich um
einen sogen, dramatisch zugespitzten Traum, bei welchem
eine Veränderung des Zeitmaasses und des Vorsteliungs-
verlaufes stattfindet. Es fiudet nämlich eine Vorstellungs-
verdichtung statt „wobei innerhalb minimaler Zeit eine
*) . . „ja der Seher sieht die Ereignisse, wie sie kommen
werden, selbst wenn alles daran gesetzt wird, die Erfüllung des Gesichts
zu vereiteln. Die der Erfüllung absichtlich in den Weg gelegten
Hindernisse sind also gleichsam schon mit in Rechnung gezogen
. Eben was die Erfüllung vereiteln sollte, führt sie herbei."
Du Frei: „Die Entdeckung der Seele**, II. Bd. I, 7, 113. A. Schopenhauer
ist („Parerga und Paralip." I, 217) ganz derselben Ansicht.
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