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730 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 12, Heft. (Dezember 1904.)
Ueber Sein und Schein.
Von Hermann H andricli.
In den uns aus dem grauen Alterthum überlieferten
Mysterien spiegelt sieh der Okkultismus und Spiritismus
der Gegenwart.
In den Medien und den durch dieselben zu Stande
kommenden Phänomenen oftenbaren sich uns sowohl die
echten, wie die auf Nachahmung beruhenden Wunder und
Mirakel der Hierophantenf der Adepten, der Magier, der
Zauberer, der Sibyllen (Hexen), der Wunderthäter und
Heiligen, der Nekromanten und Auguren.
Viele, die Echtes zu bewirken vermochten, griffen schon
damals — wenn es aus diesem oder jenem Grunde an Kraft
gebrach — zum Betrüge. Genau so verfahren die Medien
von heute, wenn es sich um ihre Existenzfrage oder um
bedeutenden Gelderwerb handelt.
Andererseits giebt es aber auch heute noch unter den
Medien die in der Bibel erwähnten wahren und falschen
Propheten, weil es heute noch, wie damals, Lügengeister
giebt, die durch ihre falschen Inspirationen Priester und
Volk betrügen, und so zur moralischen Versumpfung, sowie
zum ökonomischen Ruin der einen und der anderen
beitragen.
Dahingegen erscheint wiederum Vieles als betrügerischt
was in Wirklichkeit echt ist, ebenso wie umgekehrt Nachgeahmtes
häufig den Stempel der Echtheit an sich hat und
so dazu beiträgt, dass die Religion des Glaubens den Sieg
über die der „Beweise" davonträgt, weil sie bequemer und
mit weniger Fährlichkeiten verbunden ist.
Dem Verkehr mit der übersinnlichen Welt liegt die
mediale Befähigung zu Grunde. Es beruht dieselbe auf
dem Effluvium des sich als Aura bemerkbar machenden
Odfluidums, dessen metaphysische Eigenschaft es der Anima
des Mediums, sowie den sich manifestirendon Geistwesen
ermöglicht, die Phänomene in den verschiedenen Phasen
spiritistischer Kundgebungen zu erzielen.
Ohne diese medianime Befähigung erweist sich der
Zauberkram angeblicher Anrufungen und Beschwörungen
als wirkungsloser Schwindel und zwar um so mehr, weil
das Zustandekommen der Phänomene sich der Willkür und
Kontrole des Mediums entzieht, und dieses wiederum um
so eher, wenn (wie wir schon aus der Bibel ersehen) die
Umstände mit den Anforderungen an den psychophysischen
Entwickelungsprozess der Manifestationen im Widerspruche
stehen oder denselben ungünstig beeinflussen. —
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