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746 Psychische Studien, XXXI. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1904.)
solche, die einer Weiterbildung und Vervollkommnung fähig
smd. )
Namentlich aber ist es Thatsache, dass der menschliche
Intellekt im Laufe der Zeiten erstarkt und neue
Eigenschaften erwirbt, ohne dass dabei, wie schon oben an-
gedeutet wurde, eine Kraft der Aussenwelt verbraucht wird
oder ein Plus von Stoffwechsel dazu nothwendig ist. Die
Anregung dazu kommt allerdings von aussen, aber die
Gegenwirkung, welche diese Anregung beantwortete,
ist, dank den latenten Kräften des Denkorgans, ein unendlich
Höheres und Mannigfaltigeres, als die
auf die Anregung verwendeten Kräfte des Milieus. Mithin
widerspricht also schon die Thatsache des stetigen geistigen
Wachsthums der Lehre einer Konstanz der aktuellen
Energien.
Doch ist es damit noch nicht abgethan, denn die Vorgänge
im Intellekt greifen sofort auch auf die Dinge der
Aussenwelt über. Wenn zwischen gewissen unbelebten oder
belebten Gegenständen der Natur, die sich bisher durchaus
ruhig und indifferent gegen einander verhielten, schliesslich
eine gewisse Reihe von thätigen Beziehungen, wechselseitigen
Anziehungen, Abstossungen usw. entstände, wäre
man da nicht berechtigt, von einem Erscheinen neuer
wirksamer Kräfte zu reden? Dasselbe ist aber der Fall,
wenn besagte Beziehungen und Bewegungen durch die Ver-
mittelung eines Wesens zu Stande kamen, in dessen Intellekt
sich in Folge eines an sich ganz unbedeutenden
äusseren Anstosses neue Erfahrungen über früher unbekannte
Gegenstände bildeten. —
Auch unmittelbar im Gefühle können sich neue Anziehungs
-Strömungen einfinden, ohne dass die den Anstoss
dazu hergebenden äusseren Geschehnisse auch nur die bescheidenste
Erklärung der dabei in der Psyche auftretenden
neuen Eigenschaften, resp. Kräfte zu liefern im Stande
wären. Wir haben hier in Wahrheit nicht bloss einen zur
Stunde geheimnissvollen Voigang vor Augen, sondern er gehört
zu jenen Geheimnissen der Natur, deren Lösung keinem
Fortschritt des Wissens gelingt, d. h. wir haben hier ein
Gebiet des Unerkennbaren vor uns, wie denn auch
überhaupt die ganze Kraftfrage in letzter Instanz
*) Eines der bekanntesten Beispiele für vervollkommneten Instinkt
besteht darin, dass, sobald die Thiere einer entlegenen Gegend,
die den Menschen anfangs nicht fürchteten, ihre Zutraulichkeit
fegen die fremden Ankömmlinge büssen müssen, auch ihre Jungen
ereits mit Menschenscheu begabt zur Welt kommen.
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