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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre ete. 747
in dasselbe einmündet, da es sich dabei offenbar um ein
Unerschöpfliches, Unbegrenztes handelt.
Was ist z. B. die uns so sehr geläufige und alltäglich
scheinende Gewöhnung? In .Folge eines einfachen Durcheinanderrührens
der Wesen und Dinge trifft ein Wesen A
mit einem ihm unbekannten und gleichgiltigen Wesen B
oder Dinge 0 zusammen, und es zeigt sich zwischen ihnen
anfangs weder Anziehung, noch Abstossung. Doch bleibt
es dabei nicht. Allmählich spinnt der Lebensprozess aus
seinen ungemessenen Tiefen gewisse bindende Fäden hervor,
es zeigt sich eine Anziehung, die Gewöhnung tritt in
ihre Rechte. Selbstverständlich wird hier von allen jenen
Fällen abgesehen, wo ß oder C, obzwar dem A speziell
unbekannt, dabei gewisse, demselben von vornherein sympathische
oder antipathische Eigenschaften schon besitzen:
im ersteren Falle bedarf es eben keiner Gewöhnung, im
letzteren kann dieselbe zwar auch noch etwas ausrichten,
d. h. die anfängliche Abstossung allmählich in eine gewisse
Anziehung umwandeln, jedoch nur unter der Bedingung,
dass das Widerstrebende für A nicht zu stark ist, widrigenfalls
die Abneigung durch das Zusammenbleiben noch verstärkt
, ja schliesslich auf die zwangsweise Zusammenbleibenden
entwurzelnd oder zerstörend wirken kann.
„Wie sind nun die „Gewöhnung", bezw. die „Gewohnheit
des Näheren aufzufassen? Das hinzugekommene Wesen
oder Ding (z. B. ein Kleidungsstück, ein Möbel, eine
Landschaft usw.) wirkt so oder so durch die Sinne auf die
Psyche von A, diese Wirkung würde aber durchaus unfruchtbar
bleiben, wenn nicht die Gegenwirkung des Lebendigen
ans Werk ginge. Wie leise immer die Wirkung sei, das
Leben der Psyche empfängt eine entsprechende, wenn auch
noch so geringe Modifikation. Wiederholt sich dies
nun mehr oder weniger lange, d. h. wächst das durch sie
charakterisirte Stück des vergangenen Lebens zu einer ver-
hältnissmässig bedeutenden Grösse an, so hat es eben seiner
Grösse wegen für das Gesammtgeiuhl einen gewissen Werth
erworben, und gerade in dieser WerthsehäUung der eigenen
Existenz in der Gegenwart und Vergangenheit besteht das
Anziehende der Dinge oder Wesen, an die man sich „gewöhnt
" hat und deren schliesslicbe Entfernung als ein Unangenehmes
empfunden wird. Für unser Thema aber besteht
die Hauptsache darin, dass die allmählich eintretenden
Anlöthungen des Gefühls an neu hinzugekommene Wesen
oder Dinge ohne die Auslöschung der schon früher dagewesenen
Gewohnheiten oder Neigungen entstehen können,
dass man also nicht von einer blossen Verwandlung
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