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748 Psychische Studien. XXXI* Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1904.)
aller aktiven Kräfte in neue sprechen kann. Zwar kommen
auch Beispiele letzerer Art vor, d. h. es kann sich mit der
Gewöhnung an ein Neues die Abgewöhnung von einem
Alten vollziehen; doch ist sie keineswegs nothwendig*
Man kann alle seine alten Gewohnheiten beibehalten und
«labei doch noch neue erwerben.
Ferner ist das, was man Abgewöhnung nennt, in
vielen Fällen eine scheinbare Auslöschung, d. h. die alte
Neigung kann verborgen bleiben und gelegentlich wieder
auftauchen (wie dies ja auch mit scheinbar längst vergessenen
, jedoch im Gehirn aufgespeicherten nnd gelegentlich
sich wieder im Bewusstsein einfindenden Erinnerungen
der Fall ist), so dass also die betreffende Psyche summarisch
dennoch mehr Neigungen, als ehemals, besitzt.
Auch ist es wenigstens iu Hinsicht des Mensche»s-
^eachlechts klar, dass sein wahrer Fortschritt, seine wahre
Kultur mit einer steten Zunahme der Neigungen
für Fernstehendes und Fremdes einhergeht.
Fremde Volksschichten, fremde Völker, ferne Länder werden
uns allmählich geläufig und werth. ja lieb; der höher
emporsteigende Mensch nimmt gerne Fremdes in seine
Rechte auf, ohne die Sympathie für das wirklich Gute
seines eigenen Landes und Volkes, einzubüssen, ja eher umgekehrt
: die wärmste Vaterlandsliebe kann sich mit der
reinsten Gerechtigkeits- und Menschheitsiiebe paaren, ein
berechtigter und zielbewusster Nationalismus schliesst den
internationalen Gedanken, wo er noth thut, keineswegs ans.
Und doch wird eine solche Erweiterung des Wachsthums, Gefühls
und des Intellekts von keinem Verschwinden etwaiger
vorräthiger Naturkräfte begleitet und weder „Stoffwechsel',
noch „Ernährungsvorgänge" erklären uns dasselbe.
Wenn sich bei psychisch hoch entwickelten Menschen
auch gewisse besondere Züge in der Struktur des Gehirns
vorfinden (die übrigens noch lange keine Erklärung bedeuten
), so ist es doch gegen alle Logik und Erfahrung,
Stoffwechsel und Nahrung für deren unmittelbare Ursache
zu halten; die reichlichste Ernährung an sich bringt nachweisbar
keinerlei psychischen Fortschritt hervor, indes das
organische Gewebe sich auch bei spärlicher Ernährung
progressiv umbildet, sobald die von innen heraus wirkenden
Strömungen die organischen Elemente zwingen, sich mit
Hilfe der Nährflüssigkeit so und so zu fügen. —
Bei dieser Gelegenheit müssen wir noch den Unterschied
besprechen, der die Verwandlung latenter Kraft in
aktuelle Energie kennzeichnet, je nachdem es sich um belebte
oder unbelebte Gegenstände handelt. Wenn chemisch
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