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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre etc. 33
was hier besprochen wurde. Was bedeutet z. B. in Wirklichkeit
die gesteigerte chemische Energie eines Stoffes, der
sich „in statu Crescendi" befindet? Er bildete bisher einen
Bestandteil eines zusammengesetzten Körpers; jetzt wird er
wieder frei und wirft sich nun mit grösserer Energie
auf andere Stoffe, mit denen er verwandt ist, aber die ihm,
solange er sich in jener Verbindung befand, vorenthalten
wurden.
Die Phänomenologie der lebendigen Wesen vollends
zeigt uns vielfache Beispiele ähnlicher Vorgänge. Abgesehen
von den oben erwähnten krafterzeugenden Wirkungen
einer vorübergehenden Wärme- und Druckentziehung, sehen
wir unzählige Fälle, wo diätetische, medikamentöse, toxische,
dynamische Agentien sehr verschieden wirken, je nachdem
sie häufig oder selten zur Einwirkung kommen.
Unzweifelhafte Analogien finden wir auch auf psychischem
Gebiet: es werden einem Menschen gewisse notwendige
Lebensbedingungen entzogen, z. B. die Freiheit, und
da bemerkt er dabei, dass ihm Personen, Gegenstände,
Verhältnisse seiner früheren Umgebung, die ihm bisher indifferent
erschienen, nunmehr auf einmal teuer geworden
sind; und ist er schliesslich wieder daheim, so freuen ihn
die gewöhnlichsten Dinge. So hat jenes früher wenig geschätzte
einfache Leben, das ihm sonst schal und leer vorkam,
jetzt einen bleibenden Wert für ihn erworben, wenn die
Beraubung der Freiheit lange genug andauerte. Kurz, es
haben sich in seinem Gefühle neue Kräfte eingefunden
, infolge deren sein Ich die Dinge seiner Umgebung
mit vorher ungekannter Stärke anzieht
und festhält. Doch von psychischen Geschehnissen soll
noch später mehr die Rede sein.
Die neuen Eigenschaften, welche sich nach der Nahrungsentziehung
einfinden, lassen sich ebenso weder durch
eine grössere Einfuhr von Nahrung, noch durch Verbrauch
von gewissen Kräften aus der Umgebung erklären; alles
blieb, wie es war, ja die Nahrungsaufnahme wurde im allgemeinen
geringer, in den Gewebselementen selber aber
tauchten neue lebendige Kräfte auf, welche der abnorme
(negative) Reiz der Entziehung*) den Tiefen der latenten
Kräfte entlockte.
(Fortsetzung folgt.)
*) Ueberhaupt ist es klar, dass das deutsche Wort ,,Keiz" in
zwei sehr verschiedenen Fällen gebraucht wird, was eigentlich nicht
sein sollte. Einmal drückt es so ^iel wie Anregung aus, d. h. die
Einwirkung eines Agens, welches direkt fördernd wirkt, z. B.
Psychische Studien. Januar 1905. 3
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