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Deinhard: Aus dem Geistesleben der Gegenwart.
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auch Isolde Kurz ergangen. Annie Desant hatte ihr mit
ihrem erstaunlichen, von Tausenden von kompetenten Zuhörern
aller Rassen und Nationen niemals angezweifelten
Wissen nicht nur nicht imponiert, nein, jener Vortrag war
bei ihr auf direkten Widerspruch gestossen. Sie, die
Tochter des Tübinger Dichters Hermann Kurz, die in der
Begeisterung für Homer und die Gedankenwelt der alten
griechischen Philosophen aufgewachsen, sich selbst zu einer
beliebten Dichterin und vielgelesenen Schriftstellerin entfaltet
hatte, konnte sich, wie ich aus ihren Aeusserungen
entnahm, für den Gedanken der wiederholten Verkörperung
der menschlichen Individualität absolut nicht erwärmen,
war für das Heranziehen von metaphysischen Begriffen und
Vorstellungen überhaupt nicht zu haben. So schied ich
denn damals in dem etwas bedrückenden Bewusstsein: si
tacuisses, phüosophus mansisses, d. h. dass es entschieden
klüger gewesen wäre, wenn ich mich ihr gegenüber auf ein
solches Gesprächsthema überhaupt nicht eingelassen hätte.
Es ist ja meistenteils gänzlich verlorene Liebesmühe, wenn
man jemand, dessen ganze Denkweise antimetaphysisch geartet
ist, bei einer Tasse Tee oder einem Glas Limonade
so im Handumdrehen von übersinnlichen Wahrheiten überzeugen
will.
Dr. Edgar Kurz gegenüber, von dem ich allerdings genau
wusste, dass er allen Problemen des Uebersinnlichen
geflissentlich im weiten Bogen aus dem Wege gehe, war
ich vorsichtig genug, jedes derartige Thema zu vermeiden.
Er machte mir den Eindruck eines ausnehmend praktischen
Menschen« Dass er aber auch wissenschaftlich ganz Bedeutendes
leistete, hatte man mir gesagt. Mit ihm über
solche hochfliegende Probleme zu diskutieren, wie sie dem
Anhänger der theosophischen Geistesrichtung beständig auf
der Zunge liegen, wäre mir niemals eingefallen, es sei denn,
dass er, wie dies bei seiner Schwester der Fall war, selbst
davon angefangen hätte.
Meine Begegnung mit der Familie Kurz hatte im September
1903 stattgefunden. Im Frühjahr 1904 wurde Dr.
E. Kurz nach kurzem Krankenlager seiner langjährigen und
segensreichen Wirksamkeit als Arzt, Berater und Helfer
von Arm und Reich in Florenz durch den Tod entrissen.
Im Septemberheft 1904 der Münchener „ Süddeutschen
Monatshefte" — also gerade ein Jahr nach jener Begegnung
— finde ich nun einen längeren, mir jetzt doppelt wertvollen
Aufsatz: Edgar Kurz, ein Lebensbild von Isolde Kurz in
Florenz. Dieses Lebensbild lässt nicht nur erkennen, welch
ein edler, willensstarker und hochbegabter Mensch in dem
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