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60 Psychische Stadien. XXXII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1905.)
sigen Träume sind bevölkert von den Gemordeten, die sie
bedrohen, und durchloht von giftigen Gluten und angstvollen
Qualen. Die Gutachten, die die Aerzte über sie abgegeben
haben, lauten dahin, dass Jane Toppan einen moralischen
Defekt besitze. Ihr geht völlig jedes moralische
Gefühl ab; sie weiss nicht, was gut und was schlecht ist.
Mitleid ist ihr eine völlig fremde Regung, vielmehr erregen
fremde Not und Schmerzen in ihr ein Lustgefühl und
Freude. Sie erklärt, dass sie bei ihren Mordtaten durchaus
nicht das Gefühl hatte, etwas Unrechtes zu tun, sondern
bei den Qualen ihrer Opfer lachen musste. Die naive Lust
an Grausamkeiten, die man manchmal bei Kindern beobachtet
, scheint über alle anderen Regungen bei ihr Herrschaft
erlangt zu haben. Auch von der Gerechtigkeit des
über sie gefällten Urteils hat sie keine Ahnung. Während
der letzten drei oder vier Monate hat sich nun ihr Gewissen
in dieser furchtbaren Weise geregt, was die Aerzte
durch das völlige Aufhören intellektueller Betätigung erklären
, durch die bis dahin der moralische Sinn zurückgehalten
worden sei. Die Verbrecherin gehört einer durchaus
degenerierten Familie an.
h) Die Macht des Glaubens. Ein Wunder,
das sich in der Pariser Kirche „Unserer lieben Frau zum
Siege" dieser Tage ereignete, beschäftigt ausser den katholischen
Kreisen auch manche Männer der Wissenschaft.
Em junges Mädchen, Madeleine Glaser, die als im letzten
Stadium der Tuberkulose stehend, von den Aerzten schon
aufgegeben war, hatte mit ihren Eltern die Wallfahrt nach
Lourdes gemacht, ohne irgend eine heilsame Wirkung zu
verspüren. Es ist Sitte, dass die Pilger, die mit dem
gleichen Zuge heimkehren, sich in „Notre-Dame-des-Vic-
toires" zu einem Dankgottesdienste einfinden. Bei einer
solchen Feier war vergangene Woche auch die Familie
Glaser zugegen, die Tochter, von Vater und Mutter gestützt
, schwächer und elender als je. Plötzlich richtete sie
sich auf, rief: „Ich bin geheilt" und tat einige Schritte
zum Hochaltar hin. In der Versammlung herrschte freudiges
Erstaunen, und seitdem kommt Madeleine Glaser
täglich aus ihrer ferngelegenen Wohnung zu Fuss in die
Kirche. Ein Doktor BSrillon, der sich fast ausschliesslich
mit Hypnotismus beschäftigt und ebenfalls aus Lourdes
zurückkommt, erklärt den Fall und andere, deren Zeuge
er gewesen ist, durch religiöse Suggestion, welche
die Patientin in einen schlafähnlichen Zustand versetzt,
aus dem Madeleine Glaser erst in Paris aufwachte. Er
glaubt an ihre vollständige Heilung.
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