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84 Psychische Studien. XXXII. Jahrg. 2. Heit. (Februar 1905.)
dafür besitze ich — für etwaige Zweifler — das befriedigendste
ärztliche Attest aus allerneuster Zeit. Ich bin
selbst ein sehr vorsichtiger Mensch und habe mir solches
für alle eventuellen Möglichkeiten vor einigen Monaten ausstellen
lassen.
Aus natürlicher Beanlagung und lebhaftestem Triebe
dazu bin ich Beobachterin der menschlichen Seele und aller
mir zugänglichen Gedanken und Seelenzustände. Laiige
bevor ich wusste, dass es eine Wissenschaft mit dem Namen
„Psychologie" gibt, beobachtete ich — noch ein Kind —
meine Gedanken, wobei ich oft — sehr oft — die Gedankengänge
anderer Personen fühlte und solche berechnen konnte.
So z. B. übte ich mich als Kind im „Zickzack-Denken",
um meine Gedanken nicht von andern lesen zu lassen. Als
ich zehn Jahre alt war, es sind jetzt 46 Jahre her, existierten
das Wort und der Begriff „Farbenblindheit", soviel
mir bekaünt ist, überhaupt noch nicht. Damals schon
suchten mein l*/2 Jahre älterer Bruder und ich auf alle
mögliche Art zu ergründen, ob wir die Farben gleich sähen
oder ob wir sie nur gleich benannten.
Auch im Fieber, selbst im Delirium waren mir später die
okkultistischen Lehren während meiner fast zweimonatlichen
Krankheit gegenwärtig und wandte ich die Suggestions-
und Autosuggestionsmittel an mir selbst an, um meiner
Krankheit Herr zu werden. Ich wünschte in der schwersten
Zeit meines Leidens nichts sehnlicher, als ein erfahrener
Okkultist möchte anwesend sein, um all die merkwüdigen
Sachen zu kontrollieren und zu studieren, die an meinem
Bett vorgingen.
Am Anfang meines ärztlich-verschuldeten Koffelnde-
Jiriums, als ich auch noch krank an der Lunge war und zu
Bett lag, war ich, wie ich jetzt überzeugt bin, dazwischen
das, was man „besessen" nennt. Z. B. geschah es immer
gleich, nachdem ich die Koffeinkapseln eingenommen hatte,
dass ich allerlei derbe Redensarten anwendete und Worte
gebrauchte, die ich sonst nie in den Mund nehme. Ich
hörte das selbst und äusserte befremdet meine Verwunderung
darüber dem Arzte. Ich sagte: „Hören Sie doch — das
bin aber nicht ich, die spricht, — das sind die Worte,
die mein verstorbener Bruder von seinem Freunde X. angenommen
hatte, — wer spricht sie denn?4', worauf der
Arzt fragte: „Ja, wer sollte es denn sein?" Und ich antwortete
: „Die gespaltene Persönlichkeit", wozu
der auf psychologischem Gebiet offenbar schlecht orientierte
Arzt ärgerlich meinte: „Unsinn, das gibt es ja gar
nichtf"
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