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Reich: Gedanken über die geheimen Wissenschaften. 105
§ 11.
Wie alles nicht Verstandene gerne verspottet wird, so
auch Phrenologie und Cbiroraantik. Aus geistiger Entdeckung
und Verwertung der Tatsachen aller Wissenschaften
ergibt sich das Dasein der Seele als Entität und die Wahrheit
, dass die Seele den Leib gestaltet. Ist nun dies der
Fall, so müssen ganz besonders die Organe, in denen am
meisten von Seelenarbeit geschieht oder zum Ausdruck
kommt, spezifisch ausgeprägt sein. Demnach werden Kopf
und Hände ganz vorzüglich die besonderen Kennzeichen
der seelischen Arbeit bekunden und zwar ebenso der
früheren, wie der gegenwärtigen, und werden notwendig
auch auf die Richtung der zukünftigen Tätigkeit weisen.
Weil aber ursächlicher Zusammenhang besteht zwischen
Arbeit und Schicksal, so ist begreiflich, dass der Schluss
aus den Einzelheiten und Feinheiten von Kopf und Händen
ebenso, wie von dem Ganzen dieser Teile auf das Schicksal
des Wesens nahe liegt und, wenn mit genauer Berücksichtigung
aller Momente gezogen, auch zutrifft. Dasselbe
gilt vom Ausdruck der Gesichtszüge, von der Physiognomik
.
Phrenologie, Physiognomik, Chiromantik lassen unbedingt
wissenschaftliche Behandlung zu, wenn sie aus rechtem
Gesichtspunkt betrachtet werden und deren Studium nicht
dem Zweck des Gelderwerbs angepasst wird. Marktschreier
und Quacksalber stellen häufig sehr gute Diagnosen; allein
die Arbeit dieser Unglücklichen wird nur höchst ausnahmsweise
nutzbar für die Wissenschaft.
Man wollte die Phrenologie vernichten, indem man aussprach
, die äussere Gestalt des Kopfes weise darum nicht
auf Entwickelung der unmittelbar unter der Schädeldecke
liegenden Gehirnteile hin, weil die Dicke der Knochen nicht
überall die gleiche sei. Wie albern, wie kurzsichtig! Die
Seele als Ganzes bildet das Gehirn als Ganzes und in allen
seinen Teilen, und das Gehirn gestaltet den Schädel als
Summe aller seiner Einzelheiten, die mit denen des Gehirns
korrespondieren, wie dick oder dünn auch die Schädelknochen
seien. Eine höhere Stufe der Erkenntnis, und
Phrenologie, Physiognomik, Chiromantie werden zu wirklichen
Wissenschaften erhoben, —
Wer ernsthaft mit dem Studium der Träume sich beschäftigt
und mit den letzteren die leiblichen und seelischen
Zustände des Individuums sowohl, als auch dessen Schicksale
vergleicht, findet merkwürdigen Zusammenhang und hört auf,
die nichtmarktschreierische Traumdeutung zu verspotten.
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