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152 Psychische Studien. XXXII, Jahrg. 8. Heft. (März 1905.)
des Bluts, die Art seiner Verteilung und Bewegung, die
Funktion der Organe beeinflusst, so spiegeln sieh die entsprechenden
Zustände mittelbar auch in den Funktionen
des Gehirns wieder, was sich aber auch hier in Gestalt
von abnormerGemütsstimmungund Anderssein
der spezielleren Seelentätigkeiten
offenbart. Wie sich z. B. eine Blutstauung der Verdauungsorgane
(Abdominalplethora) als schlechte Verdauung, Appetitlosigkeit
usw. kundgibt, so übersetzt sich eine Blutstauung
des Gehirns als Schwermut, d. h. als Traurigkeit, auch
ohne äussere Ursache zum Trauern; die schwere, melancholische
Stimmung aber wirkt lähmend auf Energie und
Wille.
Hierher gehören z. B, jene Gemütszustände, die sich
nach sinnlichen Exzessen (Alkoholmissbrauch, häufigen, besonders
unnatürlich herbeigeführten Samenverlusten u. dgl.)
einstellen. Auch bei chronischer Blutüberfüllung anderer
Organe, z. B. bei ünterleibsverstopfungen, bei chronischem
Magenkatarrh, bei Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane
u. dgl. kann sich die Wirkung auf den Blutkreislauf
in dem an sich nicht kranken Gehirn fortpflanzen und
habituelle Schwermut mit Lebensüberdruss (Spleen) erzeugen
, die wiederum verschwinden, sobald es gelingt, jene
Krankheiten entfernter Organe zu heilen. Blutarmut, die
infolge von Blut- oder Säfte Verlusten, ja durch einfache
Uebermüdung entstand, übersetzt sich im Selbstgefühl als
Gereiztheit, Weinerlichkeit, Schreckhaftigkeit, Angstgefühl,
unmotivierte Traurigkeit u. dgl. Solche Gemütszustände
sind zwar als ..nervöse" genugsam bekannt, aber man be-
denkt in der Regel nicht, wie sehr dieselben darauf hin-
weisen, dass auch die entsprechenden „seelischen" Gefühle,
d. h. diejenigen, welche z. B. durch moralische Ursachen
entstehen und im Bewusstsein durch ganz ähnliche Empfindungen
repräsentiert werden, auf abnormen und analogen
Vorgängen in der Hirnmaterie beruhen müssen.
Und umgekehrt ist die Qualität der freudigen Gefühle
, die durch rein physische Vorgänge eingeleitet werden,
sei dies durch eine verstärkte Strömung des Blutes in den
Hirnarterien, oder durch die Wirkung von Alkohol, Lachgas
, Opium u. dgl. — denjenigen freudigen Erregungen, die
aus moralischen Ursachen entspringen, ganz ähnlich. Auch
wirken jene auf moralisch deprimierende Affekte in ähnlicher
zerteilender Weise, wie moralisch erheiternde Motive.
So werden z. B. die auf ungünstigen Lebensverhältnissen
beruhenden schmerzlichen Affekte nicht blos durch entgegengesetzte
, d. h. günstige Ereignisse, sondern auch durch
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