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Deinhard: Aus dem Geistesleben der Gegenwart. 161
übrigens mit dieser Schrift beabsichtigt, ist keineswegs, das
Jenseitsproblem von seinem Standpunkt aus zu lösen, sondern
er will durch sie nur — wie er selbst schreibt — „die
Funken selbständigen Verlangens nach Erkenntnis schüren
und zeigen, dass es weitreichende Gedankengänge gibt, die
auch ohne gelehrtes Rüstzeug verfolgt werden können
und die denen, die sie verfolgen, unendliche Fernsichten er-
schliessen, Fernsichten, die grösser und leuchtender sind,
als das irdische Himmelreich der Sozialdemokratie". Nachdem
wir dies klar gestellt, wollen wir uns nun diese Schrift
etwas näher ansehen. Ihr Titel lautet also: „Das Jenseits
im Licht der Politik und der modernen Weltanschauung/**)
ffaushofer's Arbeit richtet sich vorwiegend gegen die
beiden Hauptfeinde selbständigen Denkens und Forschens
in bezug auf die Jenseitsfrage, nämlich einerseits gegen den
urteilslo&en Massenglauben, wie ihn die Bevormundung der
christlichen Konfessionen, namentlich der katholischen
Kirche erzeugt, und andererseits gegen den urteilslosen,
materialistisch gefärbten Massenunglauben, wie er durch
die wachsende Verbreitung der Sozialdemokratie mit ihrem
Programmsatz: „Religion ist Privatsacheu erzeugt wird»
Beides, blinder Glaube, wie blinder Unglaube schliessen
jedes selbständige Durchdenken höherer Probleme aus.
Der kirchlich Gläubige hält das Nachdenken über die Jenseitsfrage
für überflüssig, vielleicht sogar für eine Sünde;
der durch die sozialdemokratische Schule hindurchgegangene
Ungläubige hält jedes Forschen und Sinnen über jene Frage
für Verschwendung seiner kostbaren Zeit, die ja durch die
zahlreichen Diesseitsfragen gänzlich in Anspruch genommen
ist» Diesen beiden in ihrem Wesen so grundverschiedenen
Formen von metaphysischer Bedürfnislosigkeit tritt nun H.
in dieser Schrift mit grosser Entschiedenheit entgegen. „Wir
können und dürfen uns — schreibt er am Schlüsse derselben
— weder mit dem völligen Verzicht auf das Jenseits,
noch mit einem ganz urteilslosen Glauben daran begnügen.
Das eine entwürdigt, das andere bannt uns in geistige
Knechtschaft. Die heisse grosse Sehnsucht, weder in das
eine, noch in das andere dieser beiden Uebel zu verfallen
und darin stecken zu bleiben, wohnt in den Herzen Unzähliger
. Und dieser Sehnsucht Worte zu verleihen, ist
der Zweck dieser Blätter."
Die Schrift enthält in ihrem poliltischen Teil eine
Fülle von geistvoll treffenden Bemerkungen. In lapidaren
Sätzen, oft gespickt mit den prägnanten Ausdrücken
*} München, /. F. Lehmamte Verlag, 1905. 1 M.
Psychische Studien März 1905. H
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