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Nestler: Moderne Probleme.
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Jene Stimmen, die sieh vereinzelt aus der Menge erheben
und irgend eine Lösung des ewigen Sphinxrätsels
verlangen, sammelten sich und wuchsen in wenigen Jahren
so sehr an Zahl und Energie, dass es den Anschein gewinnt
, es sei nunmehr die Behauptung des polnischen Philosophen
H. Wronski bestätigt, der sagte, die Menschheit sei
in eine neue Entwicklungsperiode eingetreten, in der es der
reinen Vernunft gelänge, das was für unsere beschränkten
Sinne unsichtbar wäre, wissenschaftlich darzulegen, und der
Mensch auf den Weg der Selbsterkenntnis käme, weil er
die ungeheure Macht, die in ihm selbst schlummre, zu erkennen
und zu verwerten beginnen würde.
Und tatsächlich hat die Wissenschaft oder sagen wir
vielmehr die wissenschaftliche Methode —
denn es gibt verknöcherte Leute, die die Wissenschaft für
etwas Abgeschlossenes halten, während sie doch ein stetiges
Werden, eine fortwährende Entwicklung ist — ein sehr bequemes
, aber auch das einzige Mittel nicht nur für die Erforschung
der Objekte, sondern auch für die der menschlichen
Psyche, und führt mit unbestreitbarer Deutlichkeit
für den, der sich mit ihr befasst, von den Tatsachen der
gemeinhin unsichtbaren Welt zu einer Erklärung für die
Stellung des Menschen im Universum. Hat wirklich jemals
die Wissenschaft — die wahre Wissenschaft — die Existenz
eines Unerkennbaren behauptet? Hat sie jemals ihr Operationsfeld
mit der Behauptung abgeschlossen: „Ueber diese
Grenzen hinaus kann man nichts wissen?" Die Antwort
auf diese Frage beruht auf einer Tatsache: wenn es jemals
eine solche Behauptung gegeben hat, so enthielt sie Irrtum
und Widerspruch mit der Zukunft. Derjenige, der wirklich
ein Mann der Wissenschaft ist, darf niemals etwas leugnen;
der Möglichkeiten sind so viele und das menschliche Wissen
gelangte bisher trotz der Menge der untersuchten Fälle
nur zu der Erkenntnis einiger weniger, wirklich sicheren
Gesetze!
Nein, die Pforten des Geistes waren eben noch geschlossen
und die wissenschaftliche Methode hat uns geholfen
, sie zu finden und ihre Schwelle zu überschreiten.
Und das Wissen derjenigen, die sich nunmehr auf diesem
neuen Forschungsgebiete befinden, ist, obwohl es von gewissen
Gesichtspunkten als „Metaphysik" und „transszendent"
betrachtet werden kann, doch für sie, wo nicht negative
Begriffe zur Anwendung gelangen, wirklich ein Positivimus,
soweit es direkt auf der Erfahrung beruht; und auf
diesem Fundament führt es zu einer Philosophie, die man
ganz gut als „immanent" bezeichnen kann.
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