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Maier; Der Einfluss des Geisterglaubens aul den japan. Charakter. 181
Leben im Reiche des Mikado zugebracht hat und wie kein
anderer in die Probleme dieses Landes und Volkes eingedrungen
ist. Daher gewinnt ein eben von ihm erschienenes Buch, das
sich nach dem „Literary Digest": „Japan, ein Versuch der
Deutung" benennt und neue, tiefgründige Aufschlüsse über
die Rätsel, die das moderne Japan dem europäischen Betrachter
bietet, enthält, besonderes Interesse. Hearn wendet
sich gegen die vorschnelle und eilfertige Art, mit der oberflächliche
Beobachter Japans häufig ihre Eindrücke als der
Weisheit letzten Schluss von sich geben. Zunächst erscheine
das Land in allen seinen Formen so durchsichtig,
wie anmutig und lieblich in seinen Reizen. Doch der beste
japanische Freund, den er hatte, sagte einmal zu ihm:
„Wenn du in vier oder fünf Jahren erkannt haben wirst,
dass du die Japaner bis jetzt überhaupt nicht verstanden
hast, dann erst wirst du anfangen, ihr Wesen näher keimen
zu lernen, die Unterschiede, die den Europäer auf ewig
von uns trennen, zu begreifen, und dann zu einem besseren
Verständnis vordringen." Hearn gesteht nun freimütig, dass
er in vielem das japanische Wesen nicht verstehe, und
glaubt gerade darum am ehesten das eigentümlich Origi-
giuelle, Seltsame und Besondere dieses Volkscharakters
darlegen zu können, weil er sich des Einzigartigen bewusst
sei und nicht mit europäischen Vergleichen die Phänomene
erklären wolle. Japan ist ein Feenland, eine Welt phantastischer
und exotischer Träume, in der zaubervolle und
magische Zustände für unsere Begriffe herrschen;
es ist eine Zivilisation, die von der unseren so weit entfernt
ist als die griechische und ägyptische Kultur; ein
völlig anderes Lebensgefühl, eine andere Weltansicht lebt
in ihnen, und wie ihre Kunst, so ist auch ihr ganzes Sein
Resultat einer langen Kulturentwickelung und eines geschlossenen
Weltempfindens. „Osten und Westen haben
wohl die gleichen Fundamente der menschlichen Natur;
die Erregungen und Triebe, sie sind die gleichen. Die
geistige Struktur eines japanischen Kindes ist von der eines
europäischen nicht allzu verschieden. Aber je älter die
Kleinen werden, desto mehr wächst der Unterschied, und
zwischen den Erwachsenen gähnt im Fühlen und Denken
eine unüberbrückbare Kluft Alle Emanationen der japanischen
Seele entladen sich in einer dem Europäer völlig
ungewohnten Weise: der Ausdruck ihrer Gedanken ist geregelt
und ruhig, wobei der Ausdruck der gemütlichen Erregungen
so energisch gedämpft und gehemmt wird, dass
man in höchstes Erstaunen gerät. Die Ideen dieses Volkes
sind nicht unsere Ideen, ihre Gefühle nicht die unseren;
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