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216 Psychische Studien. XXXII. Jahrg. 4. Heft (April 1905.)
auf ihr wirkliches Vorhandensein zu schwören; dass endlich
die „Atome", aus denen die Materie bestehen soll und die
nicht nur noch keines Sterblichen Auge jemals gesehen
hat, sondern die auch den verschiedensten und unversöhnlichsten
logischen Widersprüchen Tür und Tor öffnen, im
Grunde eine ganz überflüssige Hypothese darstellen
.*)
Wenn nun zwar logisch bewiesen ist, dass der Stoff
selber, folglich auch der Nerven- oder Hirnstoff, nichts als
ein mehr oder weniger beharrliches System von
Kräften darstellt, folgt wohl daraus etwas für die Selbständigkeit
und Unvernichtbarkeit der Seele? Keineswegs!
Auch wenn wir das Gehirn als einen Komplex von Kräften
betrachten, ist damit noch nicht besagt, dass dieser Komplex
unter allen Umständen beisammen bleiben müsse und
sich nicht in Gestalt von Einzel - Kraftfetzen oder Teilkomplexen
zerstreuen könne.
2. Tadellos richtig ist ferner der philosophische Satz,
dass zwischen materiellen Bewegungen, in welchen sich die
Tätigkeit des Hirns kundgibt und den sie begleitenden Empfindungen
und Vorstellungen qualitativ eine ewig
und absolut unüberbrückbare Kluft besteht
. Z. JB. die wenn auch noch so komplizierten
Schwingungssysteme, in die unser Gehirn mittels Ohr und
Gel irnnerven durch musikalische Erschütterungen der Luft
versetzt wird, sind immer nur Vorgänge derselben Natur, wie
die den Anstoss dazu gebenden, aber von keinerlei Empfindungen
begleiteten Schwingungen der Luft, indes dem
gegenüber die musikalischen Wahrnehmungen unseres geistigen
Ich als ein durchaus heterogenes, unvermitteltes, innerliches
und unendlich höheres Gebiet von Erscheinungen dastehen
, so dass hier Schiller*s Worte am Platze wären:
„Und der erhabene Fremdling, der (iedanke,
Öprang aus dem «taunenden Gehirn,"
Und trotzdem folgt aus dieser radikalen Verschiedenheit
beider Arten von Vorgängen noch keineswegs eine
Selbständigkeit und vollständige Ablösbarkeit der letztgenannten
, nämlich der psychischen. Nicht Mos kennen wir
tatsächlich keine „Kraft1* ohne „Stoff", sondern wir sind
auch nicht imstande, uns eine solche vorzustellen, da alle
unsere Vorstellungen, die sich auf Kräfte beziehen, stets
im Geleite wenn auch noch so verschwommener sinnlicher
*) Was man in der Chemie Atome nennt, ist, wohl bemerkt,
etwas ganz anderes und zwar ein wissenschaftlich wohlberechtigter
Ausdruck.
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