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Seffing: Zur Präge der Erblichkeit der Eigemchaften. 223
sie seit den Tagen des krassesten Materialismus doch recht
merkbare Wandlungen durchgemacht. Einer der verblüffendsten
Belege hiefür ist der im „Biologischen Centraiblatt"
(vom 15. Juni 1904) erschienene Aufsatz „Die Unmöglichkeit
der Vererbung geistiger Eigenschaften beim Menschen",
dessen Verfasser, der angesehene Biologe B. Ramitz, Ludwig
Büchner's Schrift „Die Macht der Vererbung" einen „einzigen
Gallimathias" nennt! Von anderen Forschern, gegen
welche Rawitz polemisiert, verdient das meiste Interesse der
Engländer Galton („Hereditary Genius" und „Natural In-
heritance"), nach welchem die geistigen Eigenschaften des
Menschen auf der Vererbung genau so beruhen, wie die
Gestalt und die physischen Eigenschaften. Für Galton ist,
nebenbei bemerkt, der von mir in mancher Hinsicht sehr
geschätzte JT. Briesmans in seiner Broschüre „Menschenreform
und Bodenreform" eingetreten, indem er nach dessen
Vorgang vor allen Dingen die Menschen durch geschlechtliche
Auswahl veredeln will, da sonst alle sozialen Reformen
vergeblich seien. Na<*h Rawitz hat jedoch Galton nicht
einen wirklichen Beweis für die Vererbung geistiger
Eigenschaften erbracht; jedenfalls stehen den wenigen,
scheinbar positiven Angaben des englischen Forschers zahllose
negative Erfahrungen gegenüber. Wenn Galton beispielsweise
anführe, dass das Richteramt in verschiedenen
englischen Familien durch Generationen hindurch von Vater
auf Sohn übergehe, so unterschätze er den erzieherischen
Einfluss der Umgebung, in der die Jugend aufwächst; denn
ein bestimmtes Milieu lenke die Entwickelung des Geistes
in ganz bestimmte Bahnen.
Zur Klärung der Frage der Vererbung geistiger Eigenschaften
(richtiger: Errungenschaften) muss nach Rawitz
unterschieden werden zwischen anatomischer Grundlage und
physiologischer Funktion. Nur die erste (das Organ) werde
vererbt, insofern die Erzeugten immer eine körperliche
Fortsetzung der Erzeuger sind. Als den Sitz der geistigen
Funktionen betrachtet die Naturwissenschaft die Ganglienzellen
der Hirnrinde. Was diese Zelle nun vererben könne,
sei die schnellere oder langsamere Beweglichkeit ihrer
Moleküle; was sie aber nicht vererben könne, sei die als
geistige Leistung erscheinende Rhythmik der Molekularein
versiegeltes Kuvert mit eigenartig verfasstem Inhalt an einem
besonderen Ort hinterlegen. Würde man dann als Verstorbener Ort
und Inhalt jenes Schriftstückes durch ein Medium kundgeben, dann
wäre der gewünschte Beweis erbracht, — wenn auch nicht für Leute,
die nicht überzeugt sein wollen. — Red.
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