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234 Psychische Studien. XXXII Jahrg. 4. Heft. (April 1905.)
mit am fleissigsten waren unsere Tübinger Theologen des
17. Jahrhunderts an ihrem Aufbau tätig. Dem Feinde gab
man einen Flügel um den anderen preis und baute auf
den Trümmern und aus den Trümmern des alten Schlosses
einen neuen luitigen Pavillon, in dem es sich heiter wohnen
Hess: die modernisierte alte Schrift. Doch durch ihre
dünnen Wände musste der Sturm hereinbrechen und man
sehnte sich nach der alten Burg zurück. In beiden Fällen
war der Bau nicht sachgemäss und entsprach nicht der Bedeutung
der Bibel; er muss gleichen den heutigen Festungsbauten
, fast unsichtbar in der Tiefe liegend, unzugänglich,
uneinnehmbar. Und zwar sollte dabei das Thema solcher
Unternehmungen lauten: Die Bibel und die Entwicklung
der Menschheit, Das Thema kann doppelt, von beiden
Seiten verstanden werden. Es kann heissen: welche Wirkungen
sind von der Bibel auf die Entwicklung der
Menschheit ausgegangen, in welchem Sinne es schon manch-
faltige Darstellung gefunden hat. Man kann aber (nach
dem Gesetz der Wechselwirkung) umgekehrt den Ton
auf das andere Glied legen f nicht sowohl nach den
Wirkungen der Bibel auf die Menschheit, als vielmehr
nach denen der Menschheit&entwicklung auf das Verständnis
der Bibel fragen. Die letztgenannte Art der Betrachtung
bietet sich nicht unmittelbar dar, aber sie ist
nicht weniger fruchtbar. Es soll da beleuchtet werden,
wiefern die Geschichte der Bibel uns den Eindruck macht,
dass in diesem Sinn ihr Verständnis mit der Entwicklung
der Menschheit gewachsen ist, und die Beispiele der Anschauung
sollen auf einen möglichst einfachen Begriff gebracht
werden; dann aber ist kurz zu zeigen, dass dieser
Eindruck eines mit der Entwicklung der Menschheit wachsenden
Bibelverständnisses wirklich begründet ist. Die
Wirkung der Bibel auf die Menschheit zeigt die Geschichte.
Reiht man ein Bild der unzähligen Helden der aufopfernden
Liebe an das andere, es ist anders nicht nur nach Zeit und
Farbe, sondern auch in der inneren Gestaltung, aber doch
allzumal der persönliche Widerhall des Wortes: „Daran
wird jedermann erkennen, dass Ihr meine Jünger seid,
wenn Ihr Liebe untereinander habt." Aber noch deutlicher
zeigt die Erinnerung an einzelne weltgeschichtliche Persönlichkeiten
, wie deren Leben vielfach ein Neuerleben jenes
Worts war und zugleich eben darin ein tieferes Erfassen
der Bibel lag; dieselbe Beobachtung drängt sich im Blick
auf die wichtigsten Kreise des geistigen Lebens auf. Aus
den naturwissenschaftlichen Werken eines Kepler, eines
Newton t aus den Selbstbekenntnissen der Helden der Be-
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