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Häring: DasVerständnis der Bibel in der Entwickl. der Menschheit, 235
freiungskriege, wie eines Bismarck können wir uns anschaulich
vergegenwärtigen: das Weltbild der einzelnen dehnt
sieh ins Unendliche, die tiefere Kraft zu solchem Wagemut
des menschlichen Gedankens aber bleibt der schlichte
Gottesglaube der Bibel. Das ßewusstsein Friedrich des
Grossen, der erste Diener des Staates zu sein, ist das auf
dem Gebiete des öffentlichen Lebens sich durchsetzende
Verständnis des Wortes vom Dienen, und wenn jetzt in
den sozialen Nöten unserer Zeit das Bild der ersten Gemeinde
in Jerusalem als realisiertes Ideal der Gütergemeinschaft
gepriesen wird, so ist das freilich eine unpraktische,
bezw. unrichtige Exegese; aber es war nicht eine politische
Redensart, sondern feinfühliges Verständnis für die treibenden
Kräfte der Geschichte, wenn unser grösster Staatsmann
seinen entscheidenden Schritt auf diesem unbetretenen
Neuland als praktisches Christentum bezeichnete. Diese
Frage mag uns auch daran erinnern, dass die Bibel in den
wechselnden Generationen immer wechselnd, aber immer
eigenartig neu verstanden worden ist und in jeder dieser
Generationen müssten wir, um anschaulich zu sein, auf
die verschiedenen Schichten der Bildung und des Niveaus
der Kultur der Völker achten. Das fortschreitende Verständnis
der Bibel ist Vereinfachung und zugleich
Vertiefung, und zwar quantitativ Reduktion
des Stoffes, qualitativ Vertiefung in den Inhalt: das
nicht Religiöse tritt zurück oder wird ganz abgestossen,
das Religiöse wird durch die Vereinfachung vertieft. Das
erste tritt auch am anschaulichsten an der allmählichen
Beseitigung des alten Weltbildes hervor: die Erde
ruhender Mittelpunkt der Welt, die Sonne und alle übrigen
Weltkörper um sich bewegend. Wir kennen die Kämpfe,
die ihre Beseitigung gekostet; für uns ist sie selbstverständlich
geworden. Allein trotz aller Beispiele dafür, dass
die Vereinfachung zugleich eine Vertiefung herbeigeführt
hat, könnte doch der Gedanke zu schaffen machen, dieses
in der Entwicklung der Menschheit fortschreitende Verständnis
der Bibel sei streng genommen nicht eigentliches
wachsendes Verständnis für ihre religiöse Bedeutung. Aber
zwei Beobachtungen: dass in allen Wechselwirkungen geistiger
Kräfte die Bibel sieb als eigentümlich bestimmte
und bestimmende Kraft erkennen lässt, ohne dass sie
irgend die Grösse der anderen Kräfte verkleinert, oder
anders: dass die Bibel für alle Zeiten sein will, und
zweitens, dass die Menschen, die jene Schriften verfassten,
so ungeheuer verschieden sie nach Zeit, Bildung und individuellem
Charakter waren, doch eins sind darin, dass ihnen
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