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238 Psychische Studien. XXXII. Jahrg. 4. Heft. (April 1905.)
der sich hinter dem etwas sonderbar gewählten Namen
Kamadeva (das ist Liebesgott) verbirgt, unschwer erraten.
Hören wir zunächst den Inhalt.
Die Familien des Sir Selvin Fox, eines englischen Gutsbesitzers
, und des Sir Francis Gordon, des Gouverneurs von
Bombay, sind eng befreundet, sodass man auch der zwischen
Alice Fox und Lionel Gordon bestehenden Herzensneigung
einen günstigen Ausgang versprechen darf. Nicht minder
innig ist die Liebe zwischen Sir Selvinh Sohne Gasion und
einer verwaisten jungen Dame aus vornehmer Familie,
Helene Gold (wahrscheinlicher Gould)\ jedoch ist es Gaston'%
Ueberzeugung, dass er als Ehrenmann die Geliebte nicht
an sich fesseln dürfe, so lange das Bewusstsein einer dunklen
Schuld auf seiner Familie ruht. Er ahnt diese Schuld
aus mancherlei Aeusserungen seines schwermütigen Vaters.
Da erhält dieser und seine beiden Kinder mit ihm eine
Einladung des Sir Francis*) zu einem Besuche in Bombay.
Der Einladung wird Folge gegeben. Von den wunderbaren
Dingen, die man in Iudien erleben kann, bekommen die
Reisenden unmittelbar nach der Landung und der ersten Be-
grüssung mit ihren indischen Gastfreunden eine sehr merkwürdige
Probe zu sehen: Schaustellungen der sogenannten
Fakire mit dem in der Luft schwebenden Seile,**) mit forciertem
Pflanzenwachstum, und Andeutungen über die bedeutsamen
Folgen , welche der indische Aufenthalt für
Gar ton wie für seinen Vater haben soll. Gaston ist gekommen
mit der Hoffnung, von indischen Adepten in ihre
Weisheit eingeführt zu werden. Er reist nach dem Hima-
laya und findet zu seinem Erstaunen, dass die Priesterschaft
, deren Tempel er sich naht, ihn schon erwartet und
bereit ist, seinen Wunsch zu erfüllen, wenn er die ihm auferlegten
Prüfungen besteht, die seinen Mut, seine Enthaltsamkeit
und die Reinheit seiner Absicht dartun sollen. Er besteht
sie in der Tat; weder vermag „die Hüterin der Schwelle"
ihn zu schrecken — jener Dämon der Leidenschaften, die
jeden Menschen den Lockungen der Sinne zu unterwerfen
suchen —, noch können „die Kinder des Sternenstrahls" (die
Planetengötter oder die sieben „planetaren Prinzipe") durch
Verheissungen, Macht, Reichtum, Pracht, Liebesglück und
Zauberkraft ihn verlocken oder durch Androhung von Sorge
*) Sir Gardon (mit Weglassung des Tornamens) ist zwar geläufiger
deutscher Zeitungsstil, aber nicht englisch. Ebenso ungeschickt ist
die Anrede : „gnädigste Miss." Das Wort Miss ohne darauffolgenden
Namen hSrt man nur von ungebildeten Leuten, sonst höchstens
einmal scherzweise. W,
**) Vgl. Märzheft der „Psych. Stud.", S. 190.
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