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v. Seuland: Die Logik der materialistischen Lehre etc. 287
gewöhnt, d. h. sein Organismus eine neue, ihm förderliche
Eigenschaft gewann, — so war letztere vor
der Uebersiedelung eben noch nicht da. Wenn ein bisher
lauer mittelmässiger Mensch infolge eines grossen, aber tiber-
standenen Unglücks vorsichtig, geduldig und mitleidig gegen
andere wird, so gehörten diese Eigenschaften eben vor
jenen fatalen Ereignissen nicht zu den psychischen Funktionen
des gegebenen Menschen. Auch kann man deren
Erscheinen nicht etwa in der Art auffassen, dass jene Prüfungen
einfach gewisse, vorher „schlafende'1 Eigenschaften
der Psyche geweckt hätten; denn was wir Schlaf nennen,
setzt nur ein temporäres Aussetzen bereits fertiger Kräfte
voraus, von denci in unserem Falle keine Rede war. Eine
allmähliche Evolution wahrhaft menschlicher Sittlichkeit
aus tierischen Anfängen — wie sie doch tatsächlich statt
gehabt hat *) — ist eben mehr, als blosse Erweckung
eines Schlafenden.
Wenn nun so das Lebendige auf lebenstörende äussere
Einwirkungen durch nicht bloss zweckmässige, sondern progressive
Erscheinungen reagiert, so ist dies allerdings ein
Rätsel für unser Erkennen, aber das Tatsächliche dieser
Gegenwirkung kann ebenso wenig bestritten werden, wie
die gleich rätselhafte Zielstrebigkeit der Natur überhaupt
. Das Einzige, was wir in besagten Fällen der Natur
ablauschen können, ist, dass wenn sich solche aus den tiefsten
Gründen des Lebens auftauchende zweckmässige, organisierende
Kraftströmungen zeigen, denselben immer organische
Störungen und gewisse unangenehme Gefühle
vorausgehen. Das Drangvolle dieser Empfindungen und
das dadurch gesteigerte Bedürfnis nach Wo h 1 s e i n
bedingen die nachfolgenden Resultate; das Wie bleibt ein
Rätsel. Zum Ueberfluss sei noch hinzugefügt, dass jene
progressiven Nachwirkungen ihre rätselhaften Geschenke
natürlich immer nur Schritt für Schritt zu Tage fördern,
d. h. das hinzukommende Plus ist im allgemeinen desto
bedeutender, je höher der Organismus in dem betreffenden
Sinne schon vordem stand: das Mehr von Muskelkraft, welches
sich ein schon ohnehin kräftiger Mensch durch Dressur
(kalte Bäder, periodische Entziehungen, Turnübungen usw.)
*) Selbst diejenigen, welche sich mit der Abstammung des
Menschen von tierartigen Wesen („Menschenaffen") nicht befreunden
wollen, müssen doch zugeben, das? die tatsächlichen Anfänge des
geschichtlichen Menschen im Ganzen entschieden auf
weniger Intelligenz, grössere sittliche Eoheit und fast ganz fehlende
Kunstanlagen in jenen Stadien hinweisen. Folglich gibt es schon
innerhalb menschlicher Grenzen eine Evolution.
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