http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1905/0301
Wienhold: Fragmente eines verschollenen Glaubens. 289
von Ulrich." Berlin, C. A. Schwetschke und Sohn, 1902.
511 Seiten 8°.
In den zwei ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung
finden wir anstatt einer Glaubensform und einer Kirche
eine Menge verschiedener Gemeinden und verschiedener
Bekenntnisse, die sich bemühten, die Ausstrahlung des
„Lichtes" zu versinnlichen und das wahre „Leben" zu
führen. Weit entfernt, einen scharfen Gegensatz zwischen
Wissenschaft und Religion zu finden, rühmten sich einige,
dass ihre Eeligion eine Wissenschaft sei, dass sie mit
gleicher Sicherheit das Seelische wie das Körperliche erforschen
könnten und dass sie mit Hilfe göttlicher Erleuchtung
ermächtigt seien, eine Weltphilosophie aufzustellen
. Ihre Gegner gaben ihnen verschiedene Namen; in
der Kirchengeschichte werden sie jetzt gewöhnlich als
Gnostiker bezeichnet, als Leute, deren Ziel die Gnosis
war. Nach einem der ältesten Dokumente ist aber die
Gnosis nicht als Ziel, sondern als der erste Schritt auf
dem Wege, der zum Ziele, nämlich zu Gott, führt, aufzufassen
. Die Gnostiker suchen mit Hilfe der Erkenntnis Gott.
Die Kirchenväter sagen, dass die Lehren der Gnosis von
Pythagoras und Plaio, von Aristoteles und Heraklit, von den
Mysterien und der Einweihung in dieselben, nicht aber von
Christus stammen.
Vollständiger aber und richtiger ist folgende Auffassung
. Drei zu einem Hauptstrom vereinigte Gewässer
durchfluten in den Jahrhunderten der Krisis das Land;
drei Hauptbestandteile vermischen in dem brodelnden
Schmelztiegel des ersten Jahrhunderts der christlichen
Zeitrechnung ihre Substanzen und bilden ein neues Wesen.
Griechenland, Aegypten und Judentum empfangen das
Kind in ihren Armen, nähren den Körper des Neugeborenen
und wachen über seiner Wiege; die S e e 1 e gleicht
der Seele seiner Ammen und hat ihre Sinnesart, aber den
Geist des Kindes durchleuchtet das Licht Christi. Har-
nack nennt die gnostischen Bestrebungen eine akute Verweltlichung
des Christentums, eine rasche Art, dem Christen-
turne Theologie und Systeme aufzudrücken; Meacl hält diese
Erklärung nicht für erschöpfend: die Gnosis sei vorchristlich
, und Christus habe ihre Tradition erleuchtet und den
Menschen durch öffentliche Lehre enthüllt, was bis dahin
von der Schöpfung der Welt an geheim gehalten wurde.
Die Gnostiker unterschieden öffentliche und geheime Unterweisung
. Einen Rest des Geheimwissens bewahrten sie als
unantastbares Geheimnis, weil sie wohl wussten, dass er nicht
verstanden werden könnte; da sie eine Eeligion lehren
Psychische Stadien. Mai 1905. 19
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1905/0301