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Wienhold: Fragmente eines verschollenen Glaubens. 291
einem Kreislauf aller Erscheinungsgesetze der Welt und
der Mensehenseele. Es gibt eine Präexistenz und eine
Wiedergeburt der Menschenseele, und wenn auch die Lehre
von der Sündenvergebung einen Hauptteil des Dogmas
bildet, hält man fest an der Tätigkeit von Ursache und
Wirkung.
Der Gnostizismus war etwas Lebendiges und Fliessendes,
kein krystallisiertes System, keine tote Orthodoxie; jeder
vorgeschrittene Schüler erklärte sieb auf seine eigene Weise
die Hauptzüge der Gnosis und drückte sie gewöhnlich in
seinen eigenen Worten aus. So änderten sich fortwährend
die Benennungen; der Gott des einen Systems konnte manchmal
zum Teufel des andern werden, Die Aufgabe der
Forscher wird sein, passende Bezeichnungen für die technischen
Ausdrücke der Gnosis zu finden und die verschiedenen
Ideenkreise in ihre richtige Folge zu setzen und zu
beweisen, dass die Methode der Gnosis, welche die Probleme
der Kosmogonie und Anthropogonie von oben herab
untersuchte, wohl ebenso vernünftig in ihrem eigenen Gebiete
sein könne, wie die heutige Forschungsweise, welche
von unten herauf vordringt.
Die bedeutendsten Kosmogonien der Welt sind gleicher
Art mit der gnostischen Kosmogonie, Die gnostische Anthropogonie
hat viele Berührungspunkte mit allgemeinen
theosophischen Ideen, und gnostische Psychologie ist zum
grossen Teile von neueren Forschungen bestätigt worden.
Die Gnostiker kann man wohl hier und da tadeln wegen
ihrer dunkelen Ausdrucksweise, dafür aber auch die Kirchenväter
wegen ihrer falschen Auffassung und Deutung. Von
der Anbetung der geistigen Sonne, des Logos, die in der
einen oder der andern Form allen grossen Religionen eigen
war, und, nebenbei bemerkt, auch von den Mithrasmysterien
hätten die Kirchenväter von Justinus dem Märtyrer an doch
nicht schlankweg behaupten sollen, der Teufel habe in
diesen Mysterien die heiligsten Zeremonien der Christen
nachgeäfft.
Viele Lehren der ein hohes sittliches Ideal erstrebenden
Gnostiker finden sich übrigens schon in der Trismegistus-*)
literatur, deren Dogmen aber in die ältesten ägyptischen
fleberlieferungen zurückweisen. Es fehlt ihnen nur der
historische Christus; dagegen tauchen hier schon die Lehren
vom Logos, vom Erlöser, von der jungfräulichen Mutter,
von der Wiedergeburt und der endlichen Vereinigung mit
Gott auf. Philo in seiner berühmten Schrift „Ueber das
*» Vgl. Februfirheft, H. 74, Fuswotc. — Red.
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