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344 Psychische Studien, XXXII. Jahrg. (>. Heft. (Juni 1905.)
der Lebewesen sieb auf chemisch - physischem Wege entziffern
lässt. Rein/ce's „Dominanten" (Loize's „Kräfte zweiter
Hand") bedeuten gerade so viel, wie die „Lebenskräfte"
der Yitalisten; dem einen oder dem anderen Ausdruck den
Vorzug zu geben, ist ein Streit um Worte, von Wichtigkeit
ist nur der BegrifT, den sie denken.
Welche Terminologie man nun wählen wolle, so viel
müssen uns die Theoretiker der physisch-chemischen Weltanschauung
zugestehen, dass — falls man nicht ins Lächerliche
umschlagen will, — jene „physisch-chemischen" Kräfte,
durch welche Fortpflanzung, Vererbung, Organbildung
zweckmässiger Organe, Empfindung, Wille usw. erzeugt
werden sollen, dann wenigstens anderer, d. h. höherer
Art sein müssen, als z. B. Fallkraft, Wärme, Attraktion,
chemische Verwandtschaft u. dgl# Die einfachste Ueber-
legung belehrt uns ja, dass, wenn z* B. in einem jungen
Organismus dieselben physisch-chemischen Kräfte ein energisches
, in einem alten aber ein mattes Spiel treiben und
schliesslich in ihm ganz aufhören, während bei ersterem z. B.
Stoflwechsel, Verdauung usw. rascher vor sich gehen, die
eigentliche Ursache dieser Differenzen eben — die Altersverschiedenheit
ist.*) Man kann doch unmijglich darauf
bestehen, dass auch ein solches Verhältnis oder die Differenz
von mehr oder weniger Zeit, die seit der Zeugung
verstrich, ins Gebiet der physischen oder chemischen Kräfte
gehöre.
Man kann es auch anders ausdrücken und sagen, das
aus der Tiefe Treibende sei hier das Mehr oder Weniger
von Bedürfnis zu leben: je weniger Aufgaben des Lebens
gestillt sind, desto stärker ist das Bedürfnis. Man mag
nun dergleichen Dinge so viel man will „metaphysisch"
nennen, gleichwohl sind sie da und behaupten einen
grossen Einfluss auf die Art der Lebenstätigkeit, Und
solche X-e gibt es eine ganze Menge in dem, was zum
Leben gehört. Oder wie wäre es wohl möglich, im Ernst
*) Ein gewissermassen dieser Erscheinung Aehnliches zeigt uns
die unbelebte Natur in Gestalt jener Verschiedenheit der
chemischen Energie, die ein Element „in statu nascendi" und später
kundgibt. Man kann diese Differenz nicht dadurch erklären, dass
etwa die Energie der Verwandtschaft darum anfangs stark, später
schwach würde, weil sich die Intensität der Kraft durch den Vorgang
der Verbindung selber aufzehrt, denn dasselbe lässt sich ja
beobachten, wenn man z. B. einen Teil eines eben entbundenen
Gases eine Verbindung eingehen lässt, den anderen aber isoliert
aufbewahrt: auch letzterer wird nach einer gewissen Zeit schwächer
werden.
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