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350 Psychische Studien. XXXII. Jahrg, 6. Heft. (Juni 1905.)
Bewusstseins bleibt? Gewiss! Und auch Verwarn wird
sich diesem Zugeständnis nicht entziehen können. Bemerkt
er doch an anderer Stelle ganz richtig, dass ich die Empfindungen
eines andern Menschen deswegen nicht objektiv
wahrnehmen kann, „weil Ich und Er einander gegenüberstehen
und sich ausschliessen" (32), womit offenbar schon
gesagt ist, dass das zeitweilig in meinem ßewusstsein vorhandene
Wahrnehmungsbild dieses anderen eben nicht
„Er" selbst, sondern nur meine Vorstellung von diesem
„Era ist. „Er" als ein lebender, beseelter9 empfindender
Mensch, wie ich selbst einer bin, ist für alle Zeiten ein
Ding an sich ausserhalb meines Bewusstseins und meiner
Seele; nur deshalb schliessen wir einander aus. Und was
so für diesen einen, das gilt natürlich auch für meine übrigen
1300 Millionen Mitmenschen, gilt ebenso für alle anderen
belebten oder leblosen Dinge in der Welt.
Aber wenn nun so die Wirklichkeit zu keiner Zeit
und mit keinem ihrer Teile jemals direkt in mein Bevvusst-
sein hineintritt, wie erfahre ich dann etwas von ihr ? Offenbar
nur durch ihre Wirkungen auf mich. Wer
diese in Abrede stellt, wer eine ursächliche Beziehung
zwischen jener dinglichen Aussen weit und der inneren Vorstellungswelt
meiner Seele leugnet, der schneidet mir damit
auch jeden Faden zur Erkenntnis jener Aussenwelt
und zur Erklärung der scheinbar regellosen Wandlungen
dieser Innenwelt ab. Denn etwaige Aussendinge, die mit
mii in keinerlei Wechselwirkung, in keiner gegenseitigen
Beziehung ursächlicher A*t stehen, sind für mich so gut
wie nicht da: gleichviel ob sie Menschen, Tiere. Pflanzen,
Steine oder sonst etwas sein mögen. Und alle meine sogenannten
Wahrnehmungsbilder oder Vorstellungen äusserer
Gegenstände, die von meiner Seele nicht a u t ti r u i) d
der Einwirkung äusserer, ihnen jeweils korrespondierender
Dinge an sich hervorgebracht worden sind,
unterscheiden sich in keiner Weise mehr von den nächtlichen
Gestalten meiner Träume, die ja auch scheinbar,
aber irrtümlicherweise in eine Aussenwelt hinausverlegt
werden. Darum, wer nicht in den absoluten Illusionismus
zurückfallen will, der muss eine, wenn auch nur mittelbare
Wirkung der Aussenwelt auf den Inhalt des Bewusstseins
zageben. Wer nicht seine vorgestellten Beziehungen
zu seiner Frau und seinen Kindern für eine blosse
sinnlose Einbildung seiner Seele ausgeben will, der muss
irgend welche ihnen entsprechende wirkliche Beziehungen
zwischen seinem Ich und den „Personen an sichu
seiner Frau und seiner Kinder anerkennen. Und diese ur-
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