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Keich: Ost-Indien und die Religion der Religionen. 359
bringend ist, als bei dem allergrössten Teil europäischer
und sonstiger Zivilisationsbengel.
Trotz dessen dürfen die philosophischen, religiösen und
magischen Lehren Ost-Indiens nicht ohne weiteres angebetet
, sondern müssen studiert und kritisch behandelt werden
, in Beziehung gesetzt werden zu Wissenschaft und
Weltweisheit des Abendlands, wo dergleichen möglich ist.
Doch, dazu gehört weit mehr, als gemeiner Professorenwitz
, Achselzucken, Schablonentum europäischer Geistes-
sklaven; es gehört dazu — ausser umfassender wesentlicher
Unterrichtung — freier und durchdringender, beweglicher und
ätherischer Geist, Abwesenheit jedes Vorurteils, schliesslich
vor allem ernstes Wollen und Hochachtung jenes Geisteswirkens
, welches auch auf anderen Pfaden, als dem Beurteiler
bekannt sind, Wahrheit sucht.
Häufig kommt es vor, dass europäisch Zivilisierte den
Werken ostindischer Philosophie und Keligion ohne Rücksicht
und besondere Vorbereitung plötzlich gegenüber treten
und dieselben mit gänzlich unpassendem Massstab messen.
Daher sind auch die Ergebnisse solcher Messungen mehr
oder weniger armselig, und man vernimmt Meinungen,
welche an Irrtum und Verdrehtheit nichts zu wünschen
übrig lassen. Manche gelehrte und gebildete Sprösslinge
des Abendlands gingen nach Ost-Indien, wurden mit Weisen
bekannt und schnappten von denselben einige Brocken auf;
allein mit Verdauung der letzteren hatte es oft genug seine
mehr oder weniger grosse Schwierigkeit, wie die Werke
dieser europäisch Gesitteten bekunden. Die Bücher, welche
hier gemeint sind, bestehen zu neun Zehnteilen aus purer
Phantasterei, die dem unschuldigen Leser als Konzentrat
indischer Weisheit aufgetischt wird. Solche liebliche
Geistesnahrung schlucken die europäisch gesitteten Theo-
sophen tonnenweise und glauben, dabei sehr wohl sich zu
befinden. Kein Wunder, dass von diesem falschen Hinduismus
, welcher den Eingeweihten unter den Brahmanen entschieden
das Lächeln der Ironie abnötigen müsste, keine
Brücke zu wirklicher Wissenschaft, Philosophie und Religion
leitet, obgleich mehrfach die humansten Grundsätze
darin entwickelt werden; es fehlt aber der philosophische
Geist, welcher, wenn anwesend, das Unkraut der im Pro-
phetenton verkündeten Phantasterei gebannt hätte.
Ausser einigen wenigen anderen Gelehrten hat indessen
der philosophische Sprachkundige Max Müller, welcher
zu Oxford wirkte, die Werke der ostindischen Weltweisen
und Religiösen vortrefflich verstanden und sich sehr
wohl gehütet, seine Arbeiten Phantasmen mit zu ver-
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