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360 Psychische Studien. XXXII. Jahrg. 6. Heft. (Jutii 1905.)
quicken. In solcher Weise muss bei dem Studium der
Philosophie, Religion, Geheimwissenschaft Indiens vorgegangen
werden , wenn solide Ergebnisse erreicht werden
sollen. Dies jedoch ist nur die eine Seite. Die andere
Seite ist: strengste physische und moralische Vorbereitung,
Keuschheit in Gedanken und Worten, .Reinheit der Gefühle
, Massigkeit und Enthaltsamkeit, Konzentration der
Seele und Herrschaft derselben über die unteren Leidenschaften
, ßannung des Materialismus, Zynismus, Egoismus.
Durch dergleichen Präparation setzt der Beanlagte sich in
den Stand, nicht bloss der ostindischen Weisheit und Religion
entsprechend gegenüber zu treten und deren Verständnis
zu erwirken, sondern macht überhaupt sieh fähig,
Wissenschaft, Philosophie und Religion mh Erfolg zu betreiben
und, im weiteren Verlaufe, dem Dasein und der
Vervollkommnung nutzbar zu machen.
Um dasjenige, welches man etwa geheime Wissenschaften
nennen möge, steht es in Ost-Indien ein wenig
anders, wie im Abendlande; denn von Trennung derselben
von Philosophie und Religion kann dort keine Rede sein.
Der Grund dieser Erscheinung wird dem europäisch Gesitteten
einleuchten, sowie derselbe auf höherer Stufe leiblicher
und seelischer Verfeinerung angelangt and höhere
Grade harmonischer Entwicklung erreicht. In seinem
jetzigen Zustand von gemeinem Sybaritentum und satanischer
Dollarjägerei erscheint ihm alles Naturgemässe und
Grosse, Naturnotwendige und Wahre paradox; somit kann
der Kreis der ihm möglichen Beurteilung nur beschränkt
genannt werden und seine Kraft wird das Erklimmen erhabener
Aussichtspunkte nicht zulassen. Darum sind auch
die meisten der von europäisch Gesitteten proklamierten
Weltanschauungen kleinlich und armselig, ob die Verleger
der betreffenden Bücher immerhin eine halbe Million von
Exemplaren an alles Volk verkaufen mögen.
Hiermit sei aber keineswegs ausgesprochen, dass den
Weisen Ost-Indiens und ihren Werken unbedingte Autorität
zukomme, vor welcher das Abendland etwa sich zu
beugen habe, so ungefähr, wie es nicht wenige Theosophen
machen, welche dermassen die von ihnen kaum halb
verstandenen Bruchstücke indischer Geheim Wissenschaft einsaugen
, dass sie wohl bald nur Sanskrit dürften zu radebrechen
im stände -sein. Wenn auch manches in Ost-
Indiens Geistes- und Gemütsleben unendlich mehr ausgebildet
und reif ist, als bei den abendländischen Gelehrten
und Religiösen, so darf doch keines der Werke ohne Kritik
aufgenommen und als Orakel verehrt werden.
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