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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre etc. 419
als die Grossneffen resp. -nichten hätten ihre Gestalt von
einem älteren Ahnen geerbt. Hier kommt nun zu den
schon oben ventilierten Schwierigkeiten noch diejenige sehr
zu beherzigende hinzu, dass man es hier zumeist nur bei
einer Voraussetzung bewenden lässt, ohne den tatsächlichen
Beweis zu erbringen, dass wirklich derartige
Urahnen vorausgingen. Kurz, mit den biologischen Hilfstheorien
hapert es hier so gewaltig, dass man — sobald
man sich die Sache wirklich ernst ansieht — nicht
umhin kann, noch an gewisse dominierende allgemeine
Wirkungen zu denken, etwa wie in den Fällen des vorigen
Kapitels.
In noch höberem Masse bedarf man derselben, um nur
eine halbwegs genügende Theorie für die Erscheinung der
geistig hervorragenden grossen Menschen aufzustellen, mit
deren nErklärungu man sich zwar vielfach abgequält, aber
auf keinen grünen Zweig gekommen ist, eben weil man
stets nur mit den nahen direkten Vererbungsursachen auszukommen
meinte. Zunächst sei hier, des Zusammenhangs
wegen, eine neuere (namentlich von Lombroso begründete)
Theorie erwähnt, derzufolge die Talente bloss auf Kosten
gewisser normaler Fähigkeiten entstehen sollen. Es kommen
allerdings sogen, kranke Talente oder Genies vor, bei denen
sich, neben ihren aussergewöhnlichen Fähigkeiten, diese oder
jene Lücke in der Psyche, auch dieser oder jener leibliche
Fehler vorfindet. Wer aber daraus folgert, jene Fähigkeiten
seien nichts als ein gewissermassen parasitisch angeschwollenes
Produkt, dem andere Gebiete des Organismus
ihre für sie selbst notwendigen Säfte abgaben, der bleibt
uns erstens die Antwort auf die Frage schuldig, wie und
warum denn bei solchen Menschen jene Absorption normaler
Kräfte zum Besten gewisser übernormaler zu stände
kam. Wir sehen doch ungleich öfter Individuen, bei welchen
ganz ähnliche und grössere leiblich - geistige Lücken
und Fehler vorkommen und doch nichts von Talenten zu
bemerken ist. Den Kern der Frage, um den es sich gerade
handelt, vermag uns diese Theorie also
jedenfalls nichtzuersch Hessen. Ferner widerlegt
die Lebensgeschichte derjenigen w grossen Männer", über
die wir am Besten unterrichtet sind, aufs entschiedenste
eine Ansicht, welche dieselben ohne weiteres den „Kranken4*
oder „Entarteten" beizuzählen sich bemüht. Wie viele gab
es doch unter ihnen, an denen die unparteiischste Analyse
nichts von partiellem Ungeratensein, Neigung zur Epilepsie
oder genialem Wahnsinn entdeckt, die sieb im Gegenteil
in keinem Stück unter der Norm, in manchen, ja in
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